DIE JAGD
(Jagten)
Dänemark 2012
Dt. Erstaufführung: 28.03.2013
Regie: Thomas Vinterberg
Dt. Erstaufführung: 28.03.2013
Regie: Thomas Vinterberg
Alle Ebenen, versteckten Hinweise und
Interpretationsmöglichkeiten von Thomas Vinterbergs Die Jagd aufzuzählen, würde den Rahmen einer jeden Rezension
sprengen. Dies ist ein Film mit schlicht unendlich vielen Blickwinkeln und
Details, die ihn zu einem immens spannenden, wenn auch gelegentlich ein klein
wenig artifiziellen Drama machen. Letztlich ist es aber wohl gerade der
persönliche Blickpunkt des jeweiligen Zuschauers, wie sehr er oder sie gerade
auf den letzen Einwand reagiert. Wenn man an das Gute im Menschen glaubt, mag
sich manche Begebenheit in Die Jagd
wie ein Konstrukt anfühlen. Wer einen pessimistischen Blick auf die Menschheit
hat, wird damit weniger Probleme haben. In letzter Konsequenz ist Vinterberg
mitsamt seinem Drehbuchautor Tobias Lindholm auch klug genug, beide Seiten zu
bedienen. Was nur noch mehr zur Vielschichtigkeit des Films beiträgt.
Lucas (Mads Mikkelsen) lebt in einem dänischen Dorf. Hier
kennt jeder jeden, Weihnachten ist ebenso ein großes Ereignis wie der Erhalt
einer Jagderlaubnis. Lucas arbeitet als Kindergärtner und nach seiner Scheidung
bahnt sich nicht nur einen neue Romanze an, auch sein Sohn Marcus (Lasse Fogelstrøm) möchte inzwischen lieber bei ihm wohnen als
bei der Mutter. Lucas‘ bester Freund ist Theo (Thomas Bo Larsen) mitsamt
Familie, zu der auch das Kindergartenkind Klara (Annika Wedderkopp) gehört, die
in Lucas einen Ruhepol sieht, der sie vor den Streitereien der Eltern ein Stück
weit abschirmen kann. Dies führt nicht nur dazu, dass Klara Lucas bei einem
Spiel auf den Mund küsst, sondern ihm auch ein selbstgebasteltes Herzchen in
die Manteltasche steckt. Lucas weißt beide kindlichen Liebesbeweise von sich
und macht Klara klar, dass dies nicht in Ordnung ist. Tief enttäuscht von
dieser Zurückweisung erfindet das Mädchen gegenüber der Kindergartenleiterin
Grethe (Susse Wold) eine grauenhafte Geschichte: Lucas hätte sich vor ihr
entblößt. Die Lüge beginnt sich sofort wie ein Virus zu verbreiten und
irgendwann hört niemand mehr im Dorf auf Klaras Richtigstellungsversuche noch
auf Lucas‘ Unschuldsbeteuerungen. Mit jedem Tag wird die Lage prekärer und
gefährlicher für Lucas, während die Emotionen der Dorfbewohner immer
aggressivere Züge annehmen…
Das Die Jagd ein
Film über Vorurteile ist, ist ebenso banal wie schnell ersichtlich. Vinterberg,
der als Dogma-Filmer (Das Fest) begann, inszeniert seinen Film aber so klug, dass
es nicht bei dieser simplen Betrachtungsweise bleibt. Die Jagd nimmt einige
Wendungen, die nicht vorhersehbar sind und verzichtet größtenteils auf das
große Melodram. Die Handlung hat einen organischen Fluss und auch wenn mitunter
die Zuschauererwartung geradezu hollywood’esk befriedigt wird (Lucas‘ betritt
nach einer intensiven Auseinandersetzung nochmals den Supermarkt, aus dem er
gerade geworfen wurde, um einen seiner Peiniger die Nase zu brechen – und seine
Einkäufe mitzunehmen), bleibt Vinterberg stets auf einer glaubwürdigen Ebene
verhaftet. Man könnte die geradezu durchtriebene Lüge Klaras oder das Verhalten
Grethes als konstruiert ansehen, aber völlig unglaubwürdig ist es nicht. Zumal
der Film darüber äußerst viel zu transportieren weiß.
So ist Grethe eine regelrechte Antagonistin, obwohl sie es
im Grunde nur gut und richtig meint. Die Methoden, die sie anwendet, sind
allerdings ziemlich fragwürdig. Darf man ein Kindergartenkind beispielsweise
ohne Zustimmung der Eltern von einem Psychologen befragen lassen? Und mit
Lucas, also dem „Angeklagten“ wechselt sie nur wenige Worte. Kindesmissbrauch
ist eine Sache, bei der das Wort „ernst“ zu lasch erscheint und in gewisser
Weise ist ein schnelles Eingreifen auch verständlich. Die Jagd ist kein
Plädoyer für einen laxen Umgang mit dem Thema, sehr wohl aber für Besonnenheit
und Professionalität bei der Aufklärung, kann doch schon ein falscher Verdacht
viel zerstören. Weil der Zuschauer um Lucas‘ Unschuld weiß, wird Grethe und ihr
Vorgehen zu einen Negativschablone, wäre der Film ambivalenter gestaltet, sähe
es womöglich anders aus. Lucas ist als männlicher Kindergärtner in kultureller
Hinsicht als Täter geradezu prädestiniert, übt er doch einen sozialen, also
„unmännlichen“ Job aus, was ihn ohnehin von einem sozialwissenschaftlichen
Standpunkt aus verdächtig macht. Vor der Lüge war Lucas unverdächtig, danach
scheint die Verbindung von Mann und sozialem Beruf ein Totschlagargument für
die Richtigkeit bzw. hohe Wahrscheinlichkeit bezüglich des Wahrheitsgehalts der
Anschuldigung zu sein. Als hätte es immer schon unterschwellig gebrodelt, weil
ein Mann so etwas ja nicht macht. Nicht umsonst empört sich Lucas‘ Ex-Frau am
Telefon darüber, dass er mit 42 Jahren als Kindergärtner arbeitet – es ist als
gesellschaftliches Bild nicht „ganz richtig“ und mit ein Grund, warum das
Gerücht auf so fruchtbaren Boden fällt.
So offenbart Vinterberg nicht nur, dass in diesem Fall der
Grundsatz der Unschuldsannahme bis zum Beweis des Gegenteils nicht greift
(Lucas ist von vornherein als schuldig anzusehen), sondern auch, wie sehr das
kulturelle Bild des Kindes den Fall prägt. Klara ist per definitionem
unschuldig, sie ist ein „kleiner Engel“, ein Kind – und als solches im
Verständnis der Erwachsenen gar nicht fähig, sich eine solche Lüge auszudenken.
Dabei nimmt der Film Klara als exemplarisches Kind ernster als die
Erwachsenenfiguren um sie herum. Vinterberg steht Klara Verletzlichkeit und
Gefühlschaos zu, er weiß darum, dass die Kinderwelt nicht immer so durchgehend
rosig ist, wie es beispielsweise Astrid Lindgren beschrieben hat (ein weiteres
filmisches Beispiel für die Komplexität der Kindergefühlswelt wäre Wo die wilden Kerle wohnen), auch weil
die Welt der Erwachsenen in unpassender weise mit der von Klara zusammenprallt.
So mag der Aufhänger, warum Klara überhaupt von erigierten Penissen weiß, für
einen Erwachsenen kaum bemerkenswert sein, aber man spürt, wie diese nicht
kindgerecht dargebrachte Information die Synapsen in Klaras Kopf zum rotieren
bringt. Klaras Richtigstellungsversuche stoßen deshalb auf taube Ohren, weil
die Erwachsenen nicht vom Bild des „Kindermund tut (immer) Wahrheit kund“
lassen können. Mehr noch, sie sind so sehr davon überzeugt, dass ein Kind die
Realitäten nicht unterscheiden kann, dass sie anfangen, ihr die falschen
Behauptungen als Wahrheit quasi zu reimplantieren. All diese
Ungeheuerlichkeiten inszeniert Vinterberg mit einer sezierenden
Unaufgeregtheit, die die Spannung manchmal ins Maßlose ansteigen lässt.
Neben der subtilen Schilderung der Kinderseele wird auch die
Gruppendynamik des Dorfes ohne allzu reißerische Effekte wiedergegeben. Die
Gemeinschaft wird dabei nicht als geschlossener Mob dargestellt. Manche halten
zu Lucas, andere sehen sich im moralischen Recht, mit Fäusten und Tritten gegen
den vermeintlichen Täter vorzugehen, obwohl die Polizei ihn wegen mangelnden
Beweisen schon längst hat wieder gehen lassen. Auch dass die Freundschaft
zwischen Lucas und Theo nicht zu einer Blutfehde á la einem generischen
Revengethriller wird, ist interessant. Theo wird durchgehend als Zweifler
dargestellt, den die Aussagen seines besten Freundes von Kinderbeinen an auf
der einen und die seiner kleinen Tochter auf der anderen Seite zu zerreißen
drohen. Er verhält sich manchmal falsch, aber das kann man auch von Lucas‘ Sohn
Marcus sagen. Ohne Fehler ist hier niemand, aber Theo partizipiert nicht in den
blinden Lynchabsichten vieler anderer Dorfbewohner. Die Vielschichtigkeit macht
auch um die Dorfdynamik keinen Umweg.
Die Jagd ist
spannend, bedient zwar auch das ein oder andere Klischee (z.B. die „Nachricht“
per Müllbeutel vor Lucas‘ Tür), ist insgesamt aber ein packendes Drama mit
einer involvierenden Charakter- und Milieuzeichnung. Mein Magen krampfte sich
mehrfach ob der zu wütenden Tränen animierenden Ungerechtigkeit und der
Unvorhersehbarkeit der Ereignisse zusammen. Man darf gespannt sein, ob noch ein
anderer Film in diesem Jahr diese Kraft besitzen und vor allem mit einem solch
hervorragenden Ende aufwarten wird: Denn Vorurteile und Misstrauen sind schwer
aus der Welt zu schaffen. Und wie schnell ist ein Leben zerstört. Lucas wird
sich lange, womöglich bis an sein Lebensende, nervös umsehen.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen