Donnerstag, 28. Januar 2016

Nur die Pflanze war Zeuge (1978)




NUR DIE PFLANZE WAR ZEUGE
(The Kirlian Witness aka The Plants Are Watching)
USA 1978
Dt. Erstaufführung: 16.09.1981 (TV-Premiere)
Regie: Jonathan Sarno

Eine Theorie: Irgendwann in den 1970er Jahren rauchte der angehende Regisseur Jonathan Sarno irgendein pflanzliches Mittelchen und fragte sich unter dessen Einfluss dann, was wäre, wenn er die betreffende Pflanze vorher zu diesem Vorhaben befragt hätte. Hätte sie ihr Okay zum angestrebten Rausch gegeben oder hätte sie ihm geraten, Nein zu Drogen zu sagen? Klingt das wirr? Dann eröffnet es einen kleinen Einblick, was den Zuschauer in seinem Regiedebüt (und er hat seitdem kaum weitere Filme inszeniert) Nur die Pflanze war Zeuge erwartet. Es ist eine jener 70er-Jahre-Obskuritäten, von denen man sich mindestens heute fragt, wie sie überhaupt in Produktion gehen konnten, wie man den Ehrgeiz aufzubringen vermochte, das Projekt mit ernster Miene bis zum Schluss durchzuziehen. Das ist alles denn auch jenseits der cineastischen Freakshow weniger von Interesse, reizt diesen Anziehungspunkt aber immerhin so bis zum Anschlag aus, dass es eine skurrile Freude ist.

Die Schwestern Laurie (Nancy Boykin) und Rilla (Nancy Snyder) leben in New York in der gleichen umgebauten ehemaligen Fabrik in Soho. Während Rilla mit ihrem Freund Robert (Joel Colodner) offen zusammen ist, verheimlicht Laurie den Ihrigen, Dusty (Ted LaPlat). Sie interessiert sich sehr viel mehr für die Pflanzen in ihrem Geschäft, so sehr, dass sie überzeugt ist, mit ihnen kommunizieren zu können. Als Laurie von Rilla tot auf dem Dach des Gebäudes gefunden wird, findet auch diese Gefallen an der Idee und versucht mithilfe des bei Lauries Tod anwesenden Rhododendron, das Rätsel aufzuklären …

Eins muss man Nur die Pflanze war Zeuge zugutehalten: er ist besser als der moderne Pflanzen-Thriller The Happening (was wahrscheinlich keine große Kunst darstellt). Ob sich M. Night Shyamalan von Sarnos Werk inspirieren ließ, ist fraglich, fest steht jedoch, dass der 1978 entstandene Film so sehr in seiner eigenen Welt aufgeht, dass man diesen Elan ein Stück weit bewundern muss. Er macht keinen Hehl daraus, dass die Prämisse seltsam ist (die Bücher zu Pflanzenkommunikation stehen auch hier in der Buchhandlung unter dem Stichwort „Okkultes“), nimmt aber die Idee der real existierenden „Kirlianfotografie“ (die durchaus kunstvolle, eindeutig in die Zeit passende Bilder produziert) im umgedeuteten Sinne der Handlung so ernst, dass man ständig zwischen Lachen und Staunen schwankt. Irgendwann ist die Verbindung zwischen Mensch und Rhododendron dann auch so stark, dass Rilla klare Projektionen in ihren Kopf geschickt bekommt. Um die Frage, wie die Pflanze derlei Dinge wie Gesichter etc. überhaupt wahrnehmen, geschweige denn bildlich reproduzieren kann, laviert sich der Film großzügig herum. Ist nicht wichtig. Smoke da herb.

Irgendwo zwischen Gaia-Theorie und okkultem Humbug changierend, nehmen auch die Schauspieler ihre Rollen sehr ernst. Niemand der vier Protagonisten kommt auf die Idee, sich aus der seriösen Ecke zu befreien, was dem Film auf verquere Weise ebenfalls gut steht. Im festen Glauben, dass Murder Mystery wäre überhaupt eins, knurren sich die Männer unheilsvoll an, während Rilla mit gediegener Stimme die Geschichte und ihr Schicksal per Voice-Over  leichtnimmt Dusty ein Bad in Rillas Wanne, obwohl er eigentlich nur die Rohrleitungen überprüfen wollte. Whatever. Zum Schluss ist es auch völlig egal, warum manche Dinge passieren, wie fragwürdig einige Reaktionen sind oder wie brüchig bis nicht vorhanden Erklärungen daherkommen, die Darsteller gehen so in ihren Rollen auf, wie man es nie von einem Film namens Nur die Pflanze war Zeuge erwartet hätte.

Als Zeitdokument bezeichnend, als Film herrlich obskur und melancholisch (wenn auch trotz der überschaubaren Laufzeit etwas langatmig) und als Sammlerobjekt sicherlich begehrt (ich konnte den Film dank einer alten VHS-Aufnahme sehen, offiziell auf DVD erschienen ist er bisher lediglich in einer Burn-on-demand-Fassung beim US-Amazon), ist Nur die Pflanze war Zeuge einer jener Filme, den man in erster Linie aufgrund der hanebüchenen Inhaltsbeschreibung sieht, um dann festzustellen, dass das Ganze nicht in dem Maße durchgeknallt ist, wie man es erwartet hätte. Oder doch? Oder nicht? Nur die Pflanze war Zeuge ist kein heimliches Meisterwerk, wohl aber eine groteske Rarität, die mehr Blicke verdient, als es „objektiv“ wohl gerechtfertigt wäre. Wer hätte das von einem telepathischen Rhododendron, der einen Mordfall mit aufklärt, wohl jemals erwartet?




Dienstag, 26. Januar 2016

Anomalisa (2015)




ANOMALISA
USA 2015
Dt. Erstaufführung: 21.01.2016
Regie: Charlie Kaufman und Duke Johnson

Der geneigte Zuschauer wartet sehnsüchtig auf einen weiteren Film des Australiers Adam Elliot, der zunächst mit animierten Kurzfilmen wie Harvie Krumpet von sich reden machte und schließlich mit dem Spielfilm Mary & Max oder Schrumpfen Schafe, wenn es regnet? eine wunderbar subversive Studie über psychische Erkrankungen, Entfremdung, Annäherung – schlicht das Leben – vorlegte. Der von Charlie Kaufman geschriebene und inszenierte Anomalisa widmet sich ebenfalls diesen Themenbereichen, allerdings mit weit weniger Durchschlagskraft. Es ist ein Film voller Plattitüden und einem ziemlich plakativen Selbstverständnis und wird – eben weil explizit an Erwachsene gerichtete Animationsfilme immer noch eine Seltenheit gerade im deutschen Kinoprogramm sind – garantiert auf diversen Bestenlisten am Jahresende auftauchen. Doch bei diesem Ausflug hinter den Vorhang unserer Wirklichkeit findet sich nur eine Oberflächlichkeit, die erstaunt und eine Dramaturgie, die in ihrer vorgegaukelten Tiefe beschämt.

Michael Stone ist tief in seiner Midlife-Krise. Beruflich als Motivationscoach und Experte für Personalführung auf Tagungen unterwegs, erscheint ihm sein privates Leben so leer und nichtig, dass alle Menschen um ihn herum gleich aussehen und mit der gleichen, nur wenig modulierten Stimme reden. In einem Hotel wartet er ziellos auf den nächsten Tag, ruft eine alte Liebe an und setzt das Treffen mit ihr in der Hotelbar gründlich in den Sand, denkt halbherzig an seine Frau und seinen kleinen Sohn. Als er eine andere Person auf dem Flur hört, die nicht mit der Universalstimme redet, ist er wie elektrisiert. Die Stimme gehört Lisa, einer Personalerin, die mit einer Kollegin angereist ist, um Stone reden zu hören. Es ist so etwas wie Liebe auf den ersten Blick und als Michael und Lisa die Nacht miteinander verbringen, eröffnet sich die Chance für einen Neubeginn.

Anomalisa ist mit seiner gewählten Kunstform, der Stop-Motion-Animation, den üblichen Vorbehalten ausgesetzt, namentlich so etwas wie „Kann dies denn ein ‚Erwachsenenfilm‘ sein?“ Wie in einem nervösen Reflex will Kaufman diesen „Vorwurf“ dadurch entkräften, dass er sich allem bedient, was in diesem Kontext „edgy“ wirkt: viel Fluchen, viel Rauchen und eine Sexszene, die eher peinlich wirkt (und ja, das hätte sie auch mit „echten“ Schauspielern) und auf fatale Weise an die gewisse Sequenz aus Team America: World Police erinnert. Was im Realfilm wie eine Aneinanderreihung von gestalterischen Klischees wirken würde, soll im Umfeld von Anomalisa gewagt und rücksichtslos daherkommen, unterstreicht aber nur den plakativen Eindruck. Dabei ist es gar nicht beispielsweise der Sex an sich (Animationsfilme können selbstredend auch diesen Aspekt menschlichen Lebens darstellen), sondern der Einsatz um des Effektes willen. So bekräftigt sich eine Ahnung, die schon seit den ersten Vorschauen im Raum stand: Anomalisa ist eher ein Realfilm, der zufällig per Stop-Motion inszeniert wurde und nutzt die Kunstform nicht hinreichend aus.

Dabei eignet sich die Prämisse hervorragend für eine Auseinandersetzung mithilfe des „Genres“, dem die Brechung und Vervielfältigung von Realitäten in den genetischen Code eingeschrieben ist. Die Konformität von Michaels Umgebung wird aber nicht konsequent genug betrieben, selbst mit dem gleichen generischen Gesicht unterscheiden sich die Figuren noch zu sehr voneinander. Wo Anomalisa sich an einer Mischung aus Subtilität und Offensichtlichem hätte abarbeiten können (und den Zuschauer so sehr viel nachhaltiger in Michaels Welt hätte entführen können), entscheidet man sich lieber für die gezeigte halbgare Variante (das Wissen um das Frigoli-Syndrom, dass den Film weg von einer allgemeineren Aussage hin zu einem Krankheitsbild rückt, ist dabei eher störend denn bereichernd). Die Störung der Welt, die vollkommene Isolation des Protagonisten und der Paukenschlag, den Lisa bedeutet, werden nie wirklich spürbar, zu sehr klebt Anomalisa an einem Abbild der Wirklichkeit, in der Dissonanzen wie die offenen Gesichtskonturen eher wie technisches Unvermögen wirken. Nur in einer einzigen Szene, nachdem Michael aus der Dusche steigt, seine Welt buchstäblich erschüttert und er einen Blick hinter die Maske riskieren will, zeigt der Film auf, wozu er fähig sein könnte. Wenn in einer Traumsequenz, die von vornherein als solche zu identifizieren ist, dann ein Teil des Gesichtes zu Boden fällt, ist dies dann allerdings kein definierender Moment, sondern eher ein vergessenswertes Detail, mit dem weder gespielt noch experimentiert wird. Wie beharrlich sich Anomalisa weigert, aus seinem selbstgewählten Käfig auszubrechen, obwohl er immer wieder einen diffusen Drang danach verspürt, ist bemerkenswert.

So geht es Kaufman augenscheinlich nicht darum, sein Medium jenseits der „Provokation“ einzusetzen. Man kennt diesen Trend aus dem Theater, in dem „moderne Inszenierungen“ entweder auf Gewalt oder Sex (oder beides) zurückgreifen, weil sie glauben, nur so eine Reaktion beim Publikum generieren zu können. Einsamkeit, ein Grundtopos des Animationsfilms, wird denn auch mit Sinnsprüchen beschrieben, die allesamt wirken, als seien sie nur für den Trailer geschrieben worden. Michaels finaler Vortrag besteht fast vollständig aus Plattitüden, sein Zusammenbruch ist ein wohlchoreographierter Vermarktungsankerpunkt für den Film selbst. Die Selbstoptimierung frisst ihre Anhänger? Noch so ein Ansatzpunkt, den Anomalisa weitestgehend ignoriert.

Anomalisa ist ein Film über eine Alltagsspirale, die Michael langsam aufzehrt, auch über psychische Probleme, die sich in einer einsamen Unfähigkeit artikulieren. Depressionen? Man muss dem Film zugutehalten, dass er trotz der künstlerischen Verweigerung inhaltlich nicht ganz hermetisch abgeriegelt ist. Leider läuft alles auf das Psychogram eines unsympathischen Mannes hinaus, über dessen Werdegang man nichts erfährt (wie konnte sich Michael so sehr aus der Welt entfernen?) und der letztlich nur ein egozentrisches, ja biestig-pubertäres Bild von Liebe abliefert. Michael will nicht arbeiten, weder an sich noch mit anderen Menschen, wenn die Wirklichkeit nicht in allen Details seinen Vorstellungen entspricht, schnappt er ein wie ein bockiges Kind. Das ist desillusionierend, was an sich dem Film nicht zum Vorwurf zu machen ist, aber Kaufman interessiert sich gar nicht für die Hintergründe sondern verharrt unangenehm in einer trotzigen Pose. So will Anomalisa ein Film über menschliche Gefühle sein, kennt aber nur den Weltschmerze eines mittelalten weißen Mannes, während er die weitaus interessantere Figur Lisa eher zu Michaels Spielball macht. Konsequent ist dabei immerhin das Ende, in dem die sympathische Lisa nicht in Michaels selbstzerstörerischen Sog gerät. Es ist ein weiterer Moment, der eine Größe beweist, die der Film als Ganzes nicht aufzubringen versteht. So tut Kaufman seinen Protagonisten letztlich beiden Unrecht, indem er kaum hinterfragt oder auch nur einen Perspektivwechsel anstrebt (die unterschiedlichen Altersstadien der Hauptfigur in Das wandelnde Schloss, die je nach subjektivem Betrachter wechseln, wären doch eine interessante Inspiration gewesen).

Anomalisa schreit danach, geliebt zu werden. Und obwohl man es mit jeder Faser des Herzens tun möchte, gelingt es einem aufgrund der genannten Punkte doch nicht. Ist diese Reaktion womöglich beabsichtigt, rückt sie doch auch den Zuschauer ein Stück weit in Michaels Position? Geht Kaufmans Meta-Willen soweit? Fakt ist jedoch, dass hoffentlich keiner im Publikum seinem achtjährigen Sohn eine antike Sexpuppe schenken würde, egal, wie entrückt er auch sein möge. Anomalisa ist leider weit weniger tiefgehend, als er sich selbst empfindet, was wohl die größte Tragödie an der ganzen Sache ist.





Dienstag, 19. Januar 2016

Der Bunker (2015)




DER BUNKER
Deutschland 2015
Dt. Erstaufführung: 21.01.2016
Regie: Nikias Chryssos

Im Lichte des Realismusanspruchs gerade des deutschen Films wirkt Der Bunker wie eine Trotzreaktion. Er will sich nicht einreihen in die harsch-realistischen Sozialstudien oder die flachen, für alle möglichst einfach zu verstehenden Komödien oder die heile Welt der TV-Filme. Das Kinodebüt und Abschlussfilm von Nikias Chryssos steht internationalen experimentellen Werken wie Rubber näher als heimischen Erfolgen wie Elser – Er hätte die Welt verändert, da er sich nicht dem Diktat der Wirklichkeit beugt. Dies führt fast zwangsläufig dazu, dass Der Bunker manchmal nur schräg um des Effektes willen daherkommt, aber sein unbedingter Eigenwille und die gekonnt aufgebaute Atmosphäre lassen das Interesse nie erlahmen.

Mitten im Wald in einem schwer zu findenden Bunker haust eine Familie bestehend aus Vater (David Scheller), Mutter (Oona von Maydell) und dem achtjährigen Klaus (gespielt von dem 30-jährigen Daniel Fripan, was aber nicht so peinlich wirkt wie in Clifford – Das kleine Scheusal mit Martin Short in der Kinderrolle). Eines Tages kommt ein Student (Pit Bukowski) bei Ihnen an, um sich, Bezug auf ein Inserat nehmend, in ein Zimmer bei ihnen einzumieten. Dort will er in Ruhe an seinen mathematischen Forschungen arbeiten, wird aber vom Vater wegen einer nicht ausreichenden Miete dazu verpflichtet, den Hausunterricht für Klaus zu übernehmen. Dieser soll schließlich einmal Präsident der USA werden und muss dafür alle Hauptstädte der Welt auswendig kennen. Der Student gerät immer tiefer in den Reigen der Familie, in dem nichts komplett nach den Regeln der Außenwelt spielt …

Der Bunker ist ein Film über die Rezeption der Wirklichkeit, indem er diese partiell aus den Angeln hebt. Die Dinge passieren einfach und auch wenn der Student aus der Welt jenseits des Bunkers kommt, scheint er die Regeln der Innenwelt nicht wirklich seltsam zu finden. Wenn er wie Klaus wegen ungebührlichen Verhaltens gemaßregelt wird, dann ist das eben so. Wenn Klaus nicht aussieht wie ein Achtjähriger, dann wird das ebenso wenig hinterfragt wie das Angebot der Mutter, durch Sex die Arbeit des Studenten voranzutreiben. Im Grotesken liegt dann oft die Komik des Films, auch wenn Der Bunker nicht gänzlich als Komödie aufgezogen wird wie beispielsweise der ebenfalls aus Deutschland stammende Hai-Alarm am Müggelsee. Doch die Atmosphäre hat auch stets etwas diffus bedrohliches, als lauerte unter der Fassade, noch tiefer im Bunker versteckt, etwas gänzlich Unheilvolles. So ist die Szene, in der die Mutter dem Studenten eröffnet, seit ihrer Kindheit mit Heinrich, einem Außerirdischen, durch eine Wunde an ihrem Bein in Kontakt zu stehen, und der nun in den dunklen Ecken ihrer Behausung lebt, weitaus effektiver, als man, gerade nach dieser Beschreibung, meinen würde. Im Grotesken liegt nicht nur Witz, sondern auch Bedrohung. Chryssos laviert gekonnt zwischen diesen beiden Polen, ohne sich jemals für eine Seite entscheiden zu müssen oder es durch Konkretisierung zu entzaubern. Heinrich trifft man genauso wenig wie den Postboten, der vielleicht irgendwann einmal Briefe in den außerhalb des Bunkers angebrachten Kasten wirft.

Auch gestaltungstechnisch wirkt der Film wie aus der Zeit gefallen. Produktionsdesignerin Melanie Raab präsentiert ein Konglomerat aus Chic der 1970er und 1980er Jahre. Im aus der Sicht des Zuschauers im Retrocharme eingerichteten Wohnzimmer werden altbackende Witzsammlungen vorgelesen, die einem Fips Asmussen zur Ehre gereichen würden, Klaus trägt Kleidung, wie man es womöglich von seinen eigenen Erste-Klasse-Schulbildern kennt, der Vater spricht im Duktus eines Dokumentarfilmkommentators aus vergangenen Jahrzehnten. Dies alles ist mit viel Liebe zum Detail gemacht und unterstützt durch die dunklen Farben den unheimlicheren Part der Atmosphäre.

Der Bunker ist letztlich durch seine völlige Weigerung, mit beiden Beinen „auf dem Boden der Tatsachen“ zu stehen, ein Film, der das Medium gekonnt zu seinen Gunsten prägt. Nur, weil die allermeisten Filme sich der Kohärenz verschrieben haben, müssen es ja nicht alle tun. Zumal in Der Bunker ja durchaus etwas erzählt wird, er also von beispielsweise einem dadaistischen Kurzfilm weit entfernt ist. Vielmehr illustriert er das individuelle Wirklichkeitsverständnis und wie es in verschiedene Richtungen ausschlagen kann. Dies kann von absoluter Überzeugung (Vater), über Selbsttäuschung (die Vorstellung der Eltern über Klaus‘ berufliche Zukunft oder auch die dahingestellte Verwertbarkeit der Arbeit des Studenten) bis zu Wahnvorstellungen (Mutter) reicht. Wie die Realität konstruiert ist, darüber entscheidet jeder letztlich selbst, trotz gewisser Konstanten, auf die sich ein Großteil einigen kann. In Der Bunker treffen nun Charaktere aufeinander, deren Verständnis sich von dem, was „normal“ ist und was nicht, eklatant unterscheidet. Und darüber hinaus kann man Chryssos‘ Film auch als düstere Satire auf „deutsche Tugenden“ wie Leistungsoptimierung (Klaus weiß beispielsweise nicht, was ein Spiel ist) und dem unbedingten Wunsch nach Sicherheit (in diesem Fall die vergleichsweise behütete Welt des 20. Jahrhunderts vor der Zeit des Internets und des Datenoverkills) lesen.
Der Bunker ist ganz sicher kein massentauglicher Film, es ist sogar fragwürdig, ob er auch in den Programmkinos ein breites Publikum ansprechen wird/kann. Doch sein unbedingter Stilwille, die innere Spannung hochhaltende Atmosphäre und schlicht der Reiz des Grotesken macht es den einen oder anderen Blick wert, geworfen zu werden. Gänzlich lässt sich Der Bunker nicht einordnen und etwas gepflegte Verwirrung hat in der Medienlandschaft auch ihren berechtigten Platz.



Mittwoch, 13. Januar 2016

The Hunting Ground (2015)




THE HUNTING GROUND
USA 2015
Dt. Erstaufführung: 01.01.2016 (VOD-Premiere)
Regie: Kirby Dick

Als diese Besprechung entsteht, hält gerade eine rechtsextreme, paramilitärische Einheit weißer Terroristen Oregon, USA, durch die Besetzung eines Nationalparks in Atem. Zusammen mit der „Shoot First“-Mentalität der Polizei und aberwitzigen Anekdoten aus der Wirtschafts- und Gesundheitspolitik bildet sich jenseits des großen Teiches immer wieder das Bild einer, gelinde gesagt, seltsamen Nation, in der Dinge möglich sind, über die in Europa nur der Kopf geschüttelt werden kann. Doch ist es in Deutschland wirklich besser, einem Land, in dem eine faschistische Terrorzelle jahrelang augenscheinlich vom Staat gedeckt morden konnte, in dem die angesprochene aberwitzige Wirtschaftspolitik in Form eines Freihandelsabkommens ernsthaft diskutiert wird und in dem, ebenso wie in den USA, das Beschuldigen von Opfern von Vergewaltigungen salonfähig geworden ist? Dies bringt uns zu The Hunting Ground, einer Dokumentation über das in den USA turnusmäßig hochkochende Thema von Vergewaltigungen an Universitäten. Stichworte wie „Rape Culture“ und „Victim Blaming“ kann man fast im Minutentakt in den Raum werfen und sie werden immer treffend sein.

Der Film zeichnet ein deutliches Bild: Vergewaltigungen passieren sehr viel häufiger auf dem Campus jeder beliebigen Universität, wenn sie angezeigt werden wird mit dem Finger auf die Opfer gezeigt, der Täter geschützt und nur äußerst selten überhaupt in irgendeiner Form zur Rechenschaft gezogen, Ermittlungen mitunter monatelang verschleppt, wenn sie denn aufgenommen werden. Die Macht der Studentenverbindungen, ihrer zahlungskräftigen Ehemaligen und den daraus resultierenden wirtschaftlichen und politischen Interessen wiegen schwerer als eine konsequente Verfolgung der Täter. Die Zahlen der fälschlichen Anschuldigungen werden übertrieben, es gibt auf den Uni-Webseiten Leitfäden zum Umgang mit Vergewaltigungsanschuldigungen, aber keine für die von dem Verbrechen Betroffenen. The Hunting Ground untermauert alles mit Studien, zeigt auch die unterschiedlichen Zahlen, die aber alle weit von dem abweichen, was als offiziell verkauft wird (so schwanken die Angaben zu fälschlichen Anschuldigungen zwischen 8 und 2 Prozent, was weit unter dem liegt, was als mediales Bild durch die Öffentlichkeit geistert).

Der Film bleibt konsequent bei den Überlebenden von Vergewaltigungen, egal ob weiblich oder männlich. Der Täterkult wird gerade am Beispiel eines prominenten, aufstrebenden Football-Talents beleuchtet, was zu den am schwersten erträglichen Sequenzen in dieser daran nicht armen Dokumentation gehört. Der Vorwurf, Opfer seien auch immer Mitschuld an ihrer Vergewaltigung, wiegt schwer über allem und es ist gerade diese latente Verachtung, das (auch von Frauen wie diversen gezeigten Dekaninnen) durchexerzierte, chauvinistische Weltbild, dass der Mann ja nur Triebe habe und Frauen ja klar „Nein!“ sagen könnten, die schockiert. Dem stellt der Film Handyaufnahmen einer Prozession von „Frat Boys“ entgegen, die vor einem Heim voller ErstsemesterInnen laut „No means yes, yes means anal!“ skandieren. Die Archivaussage eines jungen Mannes, der sich fragt, ob es denn wirklich eine Vergewaltigung sei, wenn die Frau Nein gesagt hat und man trotzdem Sex habe, fasst die Aberwitzigkeit, in der sich viele Überlebende nach der Tat wiederfinden, perfekt zusammen. Die Tat ist barbarisch, der Umgang danach noch schlimmer. Ein Schelm, wer böses dabei denkt, dass Lehrbeauftragte und Professoren, die sich für eine gerechte Aufklärung einsetzen, ihre Anstellungen regelmäßig verlieren.

The Hunting Ground ist in seiner ganzen Wucht schwer ertragbar. Formal eine Doku ohne Experimente, wiegt der inhaltliche Sprengstoff alles schnell auf. Die Situation an deutschen Hochschulen mag anders sein, aber die Mechanismen, nach denen in Fällen sexueller Gewalt argumentiert wird, legt der Film akribisch offen. Auf dem Oktoberfest gehören sexuelle Übergriffe ja auch zur „Folklore“ und die „Provokation“ durch einen Ausschnitt oder einen Rock wird als so gravierend angesehen, dass dem Vergewaltiger ja gar keine andere Möglichkeit blieb, als etwas zur Triebabarbeitung zu tun. Es ist diese ungeheuerliche Argumentationsweise, die in The Hunting Ground immer wieder zur Sprache kommt und sie ist, so traurig und erschreckend dies auch sein mag, universell. So wird der Film zu mehr als zu einer weiteren Schilderung aus den Niederungen der US-amerikanischen Gesellschaft. The Hunting Ground ist, in der ein oder anderen Form, überall.