VICTORIA
Deutschland 2015
Dt.
Erstaufführung: 11.06.2015
Regie: Sebastian
Schipper
Nach etwa zwanzig
Minuten Laufzeit gibt es den ersten und einzigen genuin wunderbaren Moment in Victoria: die Protagonistin und eine
ihrer Zufallsbekanntschaften fahren auf einem Fahrrad eine nächtliche Berliner
Straße hinunter, die anderen Neu-Freunde folgen, ebenso die Kamera, die den
Anschein erweckt, nicht Schritt halten zu können. Die Tonspur blendet die
Stimmen der Schauspieler aus und der traumwandlerische Soundtrack übernimmt. Es
ist eine gleichzeitig beschwingte wie melancholische Situation, ein Augenblick,
der in seiner Einfachheit eine bemerkenswerte Kaskade an Emotionen auslösen
kann. Ärgerlich ist, dass der Film durch seine selbstauferlegte
Existenzberechtigung, in einem einzigen Take gedreht worden zu sein, diesen
Anflug der banalen Poesie schnell kaputt bekommt, weil sich zum Beispiel eine
dann weitaus weniger schöne Aufzugfahrt anschließt und schnell auch wieder die
enervierenden „Dialoge“ der Figuren zu hören sind. Und genau da liegt das
Problem, dass den hochgefeierten Victoria
durchzieht: man verbringt etwas über zwei Stunden mit unsympathischen –
verzeihen Sie meine Ausdrucksweise – Volldeppen und einer schmerzlich naiven
Hauptdarstellerin, die sich innerhalb dieser Zeit zum Kopf für durchdachte
kriminelle Aktivitäten mausert. Der Film vertraut so sehr auf sein Gimmick und
wohl auch darauf, dass der Zuschauer ständig die Augen nach Möglichkeiten offen
hält, wo man doch einen unsichtbaren Schnitt hätte ansetzen können, dass er
versäumt, seinen Figuren wirkliche Qualitäten mit auf den Weg zu geben. Victoria gibt alles für die logistische
Herkulesaufgabe, lässt aber andere Qualitäten vermissen. Ein gleichermaßen
langweiliger wie anstrengender Film ohne Liebe, die über die technische
Umsetzung hinausgeht. Hätte er ein Schnittpult benutzt würde wohl niemand über
ihn reden.
Eins Nachts gegen
vier Uhr morgens verlässt die jungen Spanierin Victoria (Laia Costa) eine Disco
in Berlin und macht sich auf den Weg zu dem Café, in dem sie arbeitet und das
sie gegen sieben Uhr aufschließen muss. Ihr Weg wird von den angetrunkenen
Freunden Sonne (Frederick Lau), Boxer (Franz Rogowski), Blinker (Burak Yigit)
und Fuß (Max Mauff) unterbrochen, die sie überreden, noch etwas mit ihnen zu
trinken. Sie stehlen ein paar Biere aus einem Spätkauf, trinken sie auf einem
Dach und Sonne begleitet Victoria schließlich zurück zu ihrem Café. Kurze Zeit
später wird klar, dass Boxer in dieser Nacht noch etwas zu tun hat, er dafür
vier Personen braucht, der völlig alkoholisierte Fuß aber unbrauchbar ist. Mehr
Sonne zuliebe willigt Victoria ein, als Fahrerin zu fungieren, was sie mitten
hinein in einen Banküberfall katapultiert …
Victorias Technik nötigt Respekt ab, ja
sie lässt den Zuschauer sogar staunen. Minuziös durchgeplant, punktgenau
inszeniert, die Kamera wie ein Handlungssubjekt inmitten des Geschehens, die
Kopfbewegungen des Kameramanns Sturla Brandth Grøvlen als verlängertes Sein des
eigenen Körpers: es ist eine Meisterleistung, die sich hier abspielt, auch weil
die Crew trotz der gewissen Restunsicherheit stets unsichtbar bleibt. Und das
alles steht im Dienste einer Geschichte, deren artifizielle Konstruktion stets
unangenehm präsent ist. Kann man den ersten Akt noch als intimes
Haupsstadtportrait durchwinken, verzettelt sich Victoria danach in einen banalen Krimiplot aus der Tatort-Nachwuchsschreibwerkstatt, der
wie der Rest des Films niemals jene Sogwirkung bekommt, wie man es eigentlich
erwarten würde.
Unangenehm viel
Leerlauf, in der die tumben Charaktere nichts tun bzw. deren Darsteller über
ihre nächste Improvisation nachdenken (das „Drehbuch“ umfasste nur zwölf
Seiten), schafft es, beinahe jeden Part des Films das nötige Tempo zu nehmen.
Erst in der Wohnung des Paares mit Baby liefert der Film einen gelungenen
Spannungsbogen, der durch die an dieser Stelle bereits vollkommen eingebüßte
Sympathie für irgendeine der Figuren allerdings auch schnell torpediert wird.
Sonne und seine Kumpel als „herzensgut“ zu charakterisieren ist eine
interessante Wortwahl für einen Haufen dumm daher schwätzender Proleten, die
über lange Zeit eher wie potenzielle Vergewaltiger denn wie „nette Berliner
Jungs“ wirken. Warum nur sollte Victoria auf ihre übergriffige Art eingehen?
Natürlich weil sich Regisseur Sebastian Schipper auch nicht sonderlich um sie kümmert.
Victorias
Darstellung ist so widersprüchlich, als habe man es mit zwei Varianten eines
Drehbuchs zu tun. Auf der einen Seite auf eine Art naiv, wie sie ebenso
unangenehm daherkommt wie das Gehabe und Boxer und Co. mit ihren ewigen
„Digger!“-Rufen, auf der anderen Seite eine Virtuosin, deren Intelligenz in
einem beachtlichen Missverhältnis zu ihren Taten steht. Der Film versucht gar
nicht, ihre Motivationen nachvollziehbar zu gestalten und drängt die Figur in
jeder Situation in einen andere Ecke, nur um das jeweilig dramaturgisch
notwendige durchzuexerzieren. Victoria ist hervorragend am Klavier, damit Sonne
über sie staunen kann. Victoria ist eine skrupellose Kidnapperin, weil sie damit
ihre eigene Haut retten kann. Und dann ist sie wieder das gutgläubige Dummchen,
das mit den Jungs feiern geht. Nun ist jeder Mensch keine monothematische
Angelegenheit, aber etwas Grundstruktur wäre schon sinnvoll gewesen, um
Victoria nicht wie einen Spielball der größtenteils doch erstaunlich
vorhersehbaren Story zu machen.
Victoria ist ein Film, der bleiben wird.
Doch ähnlich wie Avatar – Aufbruch nach
Pandora wird es nicht wegen der ausgeklügelten Geschichte sein sondern
ausschließlich wegen der eingesetzten Technik. Filmwissenschaftler und
–studenten werden ihn analysieren und seine meisterhafte Inszenierung loben,
noch viele Zuschauer werden in die Welt des nächtlichen Berlins hineingezogen
werden. Doch sie werden dort immer die über alle Maßen anstrengenden und dummen
Figuren, die ewig gleichen Dialoge und den stumpfen Krimiplot finden. Victoria ist entweder ein Drama, dass
von einem generischen Thriller abgelöst wird oder ein leidlich interessanter
Thriller, dem ein zumindest in Ansätzen interessantes Portrait der deutschen
Großstadt und einer der vielen Millionen kleiner Geschichten, die tagtäglich in
ihr geschehen, vorangeht. Der deutsche Film hat kein technisches Problem, er
hat ein Protagonisten-Problem und Berlin pulsiert nicht, sondern gibt nur vor,
wirklich am Leben zu sein. So will uns Victoria
lediglich mit seinem One-Take-Ansatz überwältigen, wirklich etwas von Belang
erzählen will er nicht. Sie können weitergehen, es gibt hier nichts zu sehen
oder zu fühlen.