Sonntag, 22. März 2015

Willow Creek (2013)




WILLOW CREEK
USA 2013
Regie: Bobcat Goldthwait
Dt. Erstaufführung: [bisher nicht in Deutschland veröffentlicht]

Für Monsterfans und Kryptozoologen (was eigentlich gleichbedeutend ist) wären die Independentproduktionen Willow Creek und Letters from the Big Man ein lohnendes, auf jeden Fall ein interessantes Double-Feature. Beide behandeln die Legende vom nordamerikanischen Bigfoot, beide allerdings auf sehr unterschiedliche Weise. Und beide haben vorher augenscheinlich ein bisschen Recherche betrieben, verarbeiten sie doch diverse Aspekte, die in der Fachliteratur erwähnt werden, in der generellen „Berichterstattung“ über den Riesenprimaten aber verloren gehen. Letters spielt mit dem Gedanken, dass Bigfoot ein vernunftbegabtes Wesen ist, dass aber außerhalb unserer fassbaren Realität existiert, während sich Willow Creek auf die – nun, seien wir ehrlich – reißerischen Aspekte der Geschichte konzentriert. So kommt es denn auch dazu, dass Letters ein ungewöhnliches Filmerlebnis darstellt, während man hier nur leicht goutierbare Durchschnittsware serviert bekommt. Willow Creek ist nicht der schlechteste Found-Footage-Film auf dem Markt, aber in der Verbindung zwischen Stilmittel und mythologischem Monster wäre wohl etwas mehr drin gewesen. Die unterschwellige Komik, die sich auch in der Hauptterrorszene manifestiert, darf man derweil wohl als nur halb unfreiwillig erachten, bewies Regisseur Bobcat Goldthwait doch mit World’s Greatest Dad und God Bless America bereits zuvor seinen Hang zum abseitigen Humor.

Das junge Pärchen Jim (Bryce Johnson) und Kelly (Alexie Gilmore) machen sich auf in den Six Rivers National Forest und heften sich an die Spur von Patterson und Gimlin, jenen zwei Männern, die 1967 die wohl berühmteste Aufnahme eines angeblichen Bigfoots gemacht haben – jene, in der ein Gorillartiges Wesen mit bestimmten Schritt an den Ufern des Bluff Creek vor dem Objektiv der beiden Jäger zu entkommen versucht. Jim möchte eine Dokumentation über ihre Suche drehen, ergo läuft ihre Kamera immer mit, wenn sie über die (Un-)Möglichkeit der Existenz von Bigfoot reden, die vielen Wege erkunden, aus der Legende Geld zu generieren und wie sie sich schließlich in den Wald schlagen, um den Originalschauplatz des Patterson/Gimlin-Film zu suchen. In der Nacht werden sie von seltsamen Geräuschen geweckt und es wird schnell unmissverständlich klar, dass der dichte Wald bei weitem kein sicherer Ort ist...

Allein durch das Setting ist Willow Creek regelrecht dazu verdammt, bisweilen wie ein Echo des Blair Witch Projects daherzukommen. Junge ambitionierte Filmemacher gehen in den Wald, werden mit unheimlichen Geräuschen und Begebenheiten konfrontiert und am Ende bleibt die Kamera einsam auf dem Boden liegen und hofft darauf, irgendwann von irgendjemanden gefunden zu werden, der die Aufnahmen dann „an die Öffentlichkeit“ bringt. Dramaturgisch bietet Willow Creek dem Zuschauer einen wohligen Mantel des Erwartbaren an, wer Innovationen sucht, ist hier definitiv fehl am Platz. Mit in den Ring werden vernachlässigbare Aufnahmen von Einheimischen geworfen, die irgendwie um die Gefahren im Wald wissen und das Pärchen aufzuhalten versuchen. Es ist was faul im Staate Kalifornien. Auch ist es nett von Bigfoot, sich gleich in der ersten Nacht so eindeutig zu erkennen zu geben – wie viele Menschen mögen schon in Sasquatch-Wäldern gecampt haben, ohne auch nur die Spur eines Beweises mit nach Hause bringen zu können. Doch wenn eine Kamera dabei ist, wittert der große Kerl, auch im Hinblick auf die endliche Akkulaufzeit, augenscheinlich seine Chance, ein Horrorfilm-Bewerbungsvideo inszenieren zu können.
Das ist im Untergrund genauso albern, wie es sich liest, funktioniert auf der „primitiven“ Angst-Ebene aber zumindest auf annehmbare Weise. Man ist vom echten Terror in Willow Creek stets entfernt, aber immerhin das Ende ist einigermaßen bösartig und grauenvoll. [Achtung, es folgen Spoiler zum Filmende] In von der US-amerikanischen Regenbogenpresse dankbar aufgenommenen Gruselgeschichten entführt Bigfoot manchmal menschliche Frauen, um sie – schönfärberisch ausgedrückt – zu seinen „forest brides“ zu machen. Kelly und Jim stoßen am Ende auf eine ebensolche, die sie in der Stadt noch auf einem Vermisstenplakat gesehen hatten, dann greift etwas aus dem Off an, tötet Jim und nimmt Kelly gefangen. Der Chor der Bigfoots, der danach einsetzt, kündigt demnach wohl so etwas wie eine Massenvergewaltigung durch die Kreaturen an – wenn das nicht eine genrekonforme Scheußlichkeit ist. [Spoiler aus.]

Was hat Willow Creek, abgesehen vom Ende, also außer den üblichen Found-Footage-Klischees zu bieten? Getragen wird der Film von seinen beiden Hauptdarstellern, die ihn denn auch vor einem Totalausfall bewahren. Kelly und Jim sind sympathisch, ihre Gespräche und ihr ganzes Verhalten wirkt authentisch, sie reden miteinander, wie es Pärchen nun einmal tun und verleihen dem Film so eine Erdung, die beispielsweise Cloverfield durch seine enervierenden Charaktere nie erreichte. Willow Creek ist ein moderner Horrorfilm, in dem man nicht möchte, dass die Figuren den Tod oder ein anderes grausames Schicksal finden. Das ist für eine Low-Budget-Produktion, in der des Nachts ein in seinen Verhaltensweisen deutlich an den Gorilla angelehnte Bigfoot gegen Zelte drückt, durchaus eine Leistung. Die vielzitierten Räder bekommen von Goldthwait kein neues Design, drehen sich aber immerhin so zuverlässig, dass Willow Creek zumindest für Genrefreunde und Bigfootfans einen Blick wert sein dürfte.




Dienstag, 10. März 2015

Chappie (2015)




CHAPPIE
USA/Mexiko/Südafrika 2015
Regie: Neill Blomkamp
Dt. Erstaufführung: 05.03.2015

Der südafrikanische Regisseur Neill Blomkamp ist in gewisser Weise ein Pendant zum US-Amerikaner J.J. Abrams, indem er sich munter aus dem Fundus der genrespezifischen Popkultur der letzten Jahrzehnte bedient und sie neu zusammensetzt: ein Mash-Up-Regisseur, sozusagen. Doch während Abrams sich weitestgehend auf bloße Hommagen und eklatante Missachtung des Ausgangsmaterials konzentriert (Star Trek – Into Darkness ist immer noch in schlechter Erinnerung und den neuen Star Wars-Ausgaben kann man unter diesen Vorzeichen auch nicht sonderlich unbelastet entgegensehen), versucht Blomkamp wenigstens, seiner Zitatmaschinerie einen eigenen Anstrich zu verleihen. Sein Spielfilmdebüt District 9 war ein wilder Trip, der soziale Allegorie, Buddymovie, Thriller und Science-fiction-Action auf furiose Weise mischte, mit Anleihen an Alien Nation und RoboCop, das alles in einem interessanten visuellen Gewand. Letzteres wurde für den Nachfolger Elysium beibehalten, der Film selbst kam allerdings nicht so gut davon wie sein Vorgänger. Inzwischen hat sich selbst Blomkamp selbst eingestanden, dass er mit Elysium nicht den großen Wurf gelandet hatte, den er wohl im Sinn hatte. Nun stellt sich die bange Frage: kann Chappie das Ruder herumreißen? Es sei gesagt: Blomkamps dritter Film ist besser als Elysium, aber von District 9 weit entfernt. Zumal sich das Plündern des Genrefundus diesmal sehr viel deutlicher in den Vordergrund schiebt: Chappie ist eine nach Südafrika verpflanzte Version von (wieder einmal) RoboCop, dessen unterschätztes Remake noch gar nicht so lange her ist. Ähnlich wie dieses erzählt auch Chappie einiges über die Zeit, aus der er stammt und könnte in einigen Jahrzehnten wohlwollender aufgenommen werden als zum Zeitpunkt seiner Veröffentlichung. Denn hinter der manchmal etwas holprigen Narrative stellt Chappie erstaunlich viele Fragen, die vom Zuschauer auch eigenständig beantwortet werden wollen.
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In einer alternativen Realität hat die Polizei von Johannisburg als erste der Welt Roboterpolizisten, sogenannte Scouts im Einsatz, als unfehlbar und unbestechlich geltende Maschinen ohne künstliche Intelligenz, wohl aber einsetzbar als schier unzerstörbare Schutzschilde für menschliche Gesetzeshüter. Entwickelt wurden sie vom jungen Computergenie Deon (Dev Patel), der sich insgeheim aber an die Entwicklung von echter künstlicher Intelligenz gemacht hat, quasi der menschliche Geist mit all seinen Fähigkeiten verpackt in eine Computerdatei. Als das Experiment gelingt, entwendet er einen im Kampf schwer beschädigten Scout, um an ihm seine Entdeckung zu testen, wird aber auf dem Heimweg von zwei Kleinkriminellen (Ninja & Yo-landi, Rapper der südafrikanischen Band Die Antwoort) entführt, die glauben, er hätte die Macht, alle Scouts auf einmal abzustellen, um ihnen so einen großen Raubzug zu ermöglichen. Doch es kommt so, wie es kommen muss: Deon aktiviert den Scout mitsamt künstlicher Intelligenz und die Gangster sehen ihre Chance, mit dessen Hilfe noch viel größere Coups landen zu können. Doch der sehr schnell Chappie getaufte Roboter hat zunächst das Bewusstsein eines Kleinkindes und muss erst einen (beschleunigten) Lernprozess durchlaufen. Dabei gerät er in einen Konflikt zwischen den bald als Familie angesehenen Gangster und ihren Werten und jenen, die Deon von ihm verlangt. Und dann wäre da noch Vincent (Hugh Jackman), einer von Deons Kollegen und Erfinder eines ungleich klobigeren Robotersystems, dem die Vorstellung von künstlicher Intelligenz so zuwider ist, dass er alles daran setzt, Chappie zu vernichten…

Als Film über die Menschwerdung einer Maschine, über den Unterschied zwischen Emotionalität und Rationalität, über die Diskrepanz zwischen technisch machbaren und der ethischen Vertretbarkeit ist Chappie überfordert, aber er hat zumindest den Mut, hinter dem Spektakel dem Zuschauer die Fragen danach ans Herz zu legen. Das Blomkamp ein Verfechter einer Ethik, ja eines Humanismus ist, der über den Menschen hinausgeht, wurde bereits in District 9 deutlich. Egal ob Alien oder Roboter – Bewusstsein verpflichtet. Chappie lässt dabei auch einige der metaphysischen Fragen nicht außer Acht, die bei solch einem Stoff unweigerlich aufkommen. So ist der religiöse Part, die Gott-Frage, auch das potenteste Element des ganzen Films. Selbstredend ist Jackmans Part als Antagonist plakativ angelegt, wenn er Chappie auch aus dem Grund ablehnt, weil er nicht in sein Menschen- und damit Gottesbild passt. Vincent bekreuzigt sich gern, nennt den Roboter-Protagonisten gottlos – es ist nicht schwer, darin einen fundamentalen Konflikt zu sehen, der sich auch in der Konstellation Deon/Chappie fortsetzt und dabei einige Probleme der transhumanistischen Ethik überraschend deutlich anspricht. Chappies Körper ist fehlerhaft, seine Batterie kann weder entfernt noch aufgeladen werden, er ist dazu verdammt, innerhalb weniger Tage wieder dahinzuscheiden. Deon, der in dieser Sache durchaus ambivalent dargestellt wird, hat als Schöpfer, als Gott, keine Antwort auf die Frage nach dem Warum: Warum erschafft er Leben, wenn es doch nur dazu verdammt ist, zu sterben? Daran schließt sich ein ganzer Rattenschwanz an Fragen an, z.B. danach, ob, nur weil etwas möglich ist, man es auch tun sollte und wie sich der Mensch im Angesicht von eigenhändig erschaffender Intelligenz überhaupt definieren soll. Das Ende, unter anderen Gesichtspunkten sicherlich nicht ohne Probleme, kann denn auch als Aufruf verstanden werden, die Götter wieder auf die eigene Ebene zurückzuholen. Above us only sky.

Chappie ist ein plakativer Film, keine Frage. Subtilität ist nicht gerade seine Stärke und dennoch funktioniert das Ganze doch erstaunlich gut, trotz einer ganzen Palette an geradezu dreisten Ungereimtheiten (die bloße Darstellung der Erschaffung künstlicher Intelligenz beispielsweise, die Tatsache, dass die Roboterfirma das mieseste Sicherheitssystem der Welt hat oder auch, dass Deon Chappie einfach den Gangstern überlässt und unbehelligt nach Hause fährt – weil die Gang es ihm so gesagt hat). Doch ähnlich wie der sich nach den Anforderungen der Sequenz verändernde Stil in District 9 stört dies kaum den Handlungsfluss. Blomkamp weiß, wie er Geschichten am Laufen halten kann, selbst Elysium konnte noch von dieser Fertigkeit profitieren. Hinzu kommen die einmal mehr grandiosen Effekte, die in keiner Sekunde Zweifel daran aufkommen lassen, dass Chappie und die menschlichen Akteure wirklich zusammen am Set zugegen waren.

Chappie ist eine Art guilty pleasure-Film, ein Werk, von dem man weiß, dass es sich an allen möglichen Töpfen bedient (Vincents Kampfroboter ist auch optisch direkt Paul Verhoevens RoboCop entlehnt), massive narrative Schwächen aufweist, Schauspieler geradezu vergeudet (Sigourney Weaver ist lediglich da, um ihren Gehaltscheck abzuholen) und die meisten der aufkeimenden Fragen im Bezug auf sein Sujet nicht direkt oder nur sehr halbherzig anspricht, aber dennoch, wie durch ein Wunder, funktioniert das Ganze auf der reinen Popcorn-Ebene dann doch ganz ordentlich. Zumal er als Grundlage für eine anschließende Diskussion über Ethik und Philosophie ebenfalls genug Raum bietet. Chappie ist kein großer Wurf, dafür hat der geneigte Zuschauer schon zu viel in diese Richtung gesehen, aber er ist auch nicht der Schritt nach unten, den man nach dem halbherzigen Elysium befürchten konnte. Zumal ein Film, der in seiner Hauptactionszene die Snowden-Enthüllungen ins Gedächtnis ruft und wie auf Videos festgehalten wurde, wie das Töten von Menschen zum Videospiel wurde (hier mit Vincent und seinem Moose-Kampfroboter als Stand-In), der ist einer flächendeckenden Lobotomie ohnehin unverdächtig.




Donnerstag, 5. März 2015

Boyhood (2014)




BOYHOOD
USA 2014
Dt. Erstaufführung: 05.06.2014
Regie: Richard Linklater

Langzeitstudien haben einen besonderen Reiz, weil sie Dinge sichtbar machen, die sonst im Verborgenen bleiben. Das fängt bei Zeitrafferaufnahmen in der Sendung mit der Maus an, geht über Internetvideos von Kindern, die einmal pro Woche von ihren Eltern gefilmt werden, um Jahre der Entwicklung in vier Minuten mit anzusehen und endet bei Michael Apteds Up-Reihe, die seit 1964 ihre Protagonisten alle sieben Jahre besucht, um ihr Leben dokumentarisch zu begleiten. In narrativer Form verfolgt Richard Linklater dies seit 1993 mit seiner Before-Serie in ähnlicher Form. Mit mittlerweile drei Filmen hat er eine bemerkenswerte Beziehungschronologie geschaffen, stets getragen von den grandiosen Dialogen, die Linklater seinen Figuren in den Mund legt. Boyhood möchte nun nach ähnlichen Maßstäben funktionieren, wieder ist das Thema Zeit präsent und der Entstehungsprozess ist an sich schon eine beachtliche Leistung: man sieht, wie die Protagonisten aufwachsen – und zwar nicht durch die Macht der Montage und des Castings, sondern weil sie wirklich vor unseren Augen wachsen. Boyhood hatte eine Produktionszeit von zwölf Jahren, immer wieder traf sich das Team, um diese Coming-of-Age-Geschichte auf Film zu bannen. Das ist an sich eine großartige Idee, ein mit Risiken behaftetes Unterfangen, von dem man durchaus fasziniert sein kann, dass es sich überhaupt zu einem homogenen Ganzen zusammenfügt. Doch kurioserweise liegt darin einer der Hauptgründe dafür verborgen, dass Boyhood hinter den Erwartungen zurückbleibt: es ist alles zu homogen, zu glatt, ja zu beliebig. Es ist alles auf durchaus charmante Art fluffig anzuschauen, aber es fehlen die definierenden Elemente und auch der emotionale Anker. Denn Mason, der Junge, um den sich die ganze Aufregung dreht, bleibt den Film über blass, ja, er verliert sogar immer, wenn Ethan Hawke auf der Bildfläche erscheint und ihn gegen die Wand spielt. Der fehlende emotionale Resonanzboden sorgt schlussendlich dazu, dass Boyhood ein bisschen wie eine Mogelpackung daherkommt.

Mason (Ellar Coltrane) ist sechs, als wir ihm zum ersten Mal begegnen. Die folgenden Jahre, bis er das Elternhaus verlässt und aufs College geht, werden wir uns immer wieder in sein Leben schalten, werden sehen, was seine Mutter (Patricia Arquette) für ein Händchen dabei beweist, sich immer wieder Alkoholiker als Ehemänner anzulachen, wie sein Vater (Ethan Hawke) sich neu verliebt und ihn und seine Schwester um einen Halbbruder bereichert und wie Mason mit den Tücken der Erwachsenwerdens konfrontiert wird.

Der Erfolg der Before-Reihe hängt nicht unerheblich damit zusammen, dass Linklater in jedem Film einen Lebensabschnitt verdichtet und auf den Punkt bringt. In den wenigen Stunden, die man die Protagonisten begleitet, findet sich die Weisheit, die Anmaßung, die Freude und der Schmerz einer ganzen Phase, sei es die hoffungsfrohe Melancholie der Zwanziger oder die einsetzende Midlifecrisis der Vierziger. Es hätte nicht geschadet, wenn Linklater in punkto Boyhood diesen Weg einfach erneut eingeschlagen hätte. Sicherlich wäre der Turnus ungleich höher gewesen, aber was für ein unglaublicher Triumph wäre es gewesen, wenn man 12 Jahre an der Entwicklung Masons in Spielfilmform hätte teilhaben können? Dies mag utopisch sein, vielleicht sogar anmaßend, diese Herkulesaufgabe überhaupt in den Raum zu werfen, doch Boyhood hätte so seiner Beliebigekeit womöglich entfliehen können. Mit einem Spielfilm in jedem Jahr, der ähnlich wie die Before-Filme konzentriert von einem Lebensabschnitt berichtet hätte, hätte Linklater nicht nur eine Art Ergänzung zu der Geschichte von Jessie und Celine geschaffen (die beiden lernte der Zuschauer erst kennen, als sie Anfang 20 waren), es hätte vielleicht auch die Wirkung gehabt, die man bei Boyhood augenscheinlich erzielen wollte. Zumal eine gewisse Dramatisierung des Ganzen durchaus angebracht gewesen wäre.
Boyhood ist voller großer Geschichten: die elterliche Scheidung, die Probleme mit dem ersten Stiefvater, die Selbstfindung der Mutter, die Probleme, die Mason als sensibler Künstler (so ziemlich seine einzige ausformulierte Charakteristika) hat, weil sie nun einmal auftreten, wenn man in einer Kultur aufwächst, die das Machogehabe noch nicht vollständig abgelegt hat. Ausformuliert wird wenig und wenn man ein Problem nicht lösen möchte, erlöst ein Schnitt, der ein Jahr überspringt, Linklater von der Verantwortung. Dadurch entsteht die angesprochene Beliebigkeit, der Unwille, in die Tiefe zu gehen, was Boyhood letztlich oberflächlich macht. Der Rahmen ist gigantisch, aber konzentriertere Coming-of-Age-Stories wie Stand by Me – Das Geheimnis eines Sommers oder die deutsche, sträflich unbekannte Produktion Fickende Fische sind Boyhood dann doch überlegen, weil sie sich mit Haut und Haar auf die Figuren einlassen, auf ihre Gefühle, ihre Ängste, ihre Leben. Linklater beobachtet hier nur, dokumentiert das Alltägliche und kurioserweise werden die inszenatorischen Elemente zum Stolperstein, weil man den Ausgang ja kennt – es geht weiter, egal, wie grauenhaft der Stiefvater sich benimmt oder wie sehr Mason über ein Liebescomeback für seine Eltern spekuliert. Das auch mit Klischees gearbeitet wird, ist in Ordnung, weil ja auch das Heranwachsen immer etwas Klischeehaftes hat, weil jede Generation im Grunde die gleichen Fehler macht (machen muss), um aus ihnen zu lernen. Dass sie mitunter mit einer vehementen Unlust präsentiert werden, ist dabei weniger erfreulich.

Es mag vielleicht genau diese Uneindeutigkeit sein, die zum Erfolg von Boyhood beiträgt. Jeder Zuschauer kann so viel hineininterpretieren, wie er oder sie will und womöglich ist auch die Poesie des Normalen ein nicht zu unterschätzender Faktor. Hinzu kommt adaptierbare Nostalgie und ein ständiges Stichwortwerfen, dass die Erinnerung an Teile der eigenen Jugend triggern soll. Dies funktioniert manchmal sogar, eine gewisse Universalität ist dem Film nicht abzusprechen, aber es sind stets nur kleine Augenblicke im 2 ½ Stunden-Mammutwerk, dass gleichzeitig zu lang und zu kurz wirkt. Zu lang, weil manchmal der quasi nicht-existente Plot zu sehr durchscheint, zu kurz, weil vieles von dem, was der Film anspricht, eigentlich ein eigenes 90-Minuten-Werk wert gewesen wäre.
Boyhood wird wahrscheinlich lange Zeit für seinen Entstehungsprozess in Erinnerung bleiben. Es ist unbestreitbar faszinierend, einen Menschen aufwachsen zu sehen, schon allein, weil man es selbst nicht in dieser Form erleben kann – als Betroffener ist man einfach zu sehr „in der Materie“. Doch lässt man dies außer Acht, was zugegebenermaßen schwer fällt, weil der Prozess ein so elementarer Bestandteil der Werks ist, ist Boyhood ein recht wenig pointiertes Drama, dass auch durch die Passivität seiner Hauptfigur zu einer bloßen Abfolge von Stichworten wird. Man will den Film mit jeder Faser seines Herzens lieben und es ist sicherlich keine Zeitverschwendung, ihn sich zu Gemüte zu führen, aber am Ende wartet man doch lieber auf den nächsten Beitrag zur Before-Reihe. Boyhood ist kein Meisterwerk und es ist ähnlich frustrierend wie die Pubertät, sich dies eingestehen zu müssen.




Dienstag, 3. März 2015

Gone Girl - Das perfekte Opfer (2014)




GONE GIRL - DAS PERFEKTE OPFER
USA 2014
Regie: David Fincher
Dt. Erstaufführung: 02.10.2014

ACHTUNG! Diese Besprechung enthält Spoiler.

Gone Girl ist, passend zu seiner weiblichen Hauptfigur, ein Film der zwei Gesichter. Wer einen routiniert inszenierten, „schicken“ Thriller sehen will, der wird bei David Finchers neuster Regiearbeit das finden, was er oder sie sucht. Wer Interesse daran hat, etwas tiefer als die Oberfläche zu sehen, der findet einen durchaus diskussionswürdigen, dadurch aber nicht automatisch guten Film, dessen größte Leistung es wohl ist, die Frage nach seiner innewohnenden Misogynie nie eindeutig zu beantworten. Es geht dem geneigten Zuschauer irgendwann sehr viel weniger darum, wie Protagonistin Amy ihren elaborierten Plan in die Tat hat umsetzen können, sondern um die Frage, ob Gone Girl ein latent (oder nicht ganz so latent) frauenfeindlicher Film ist.

Amy (Rosamund Pike) ist verschwunden. An ihren fünften Hochzeitstag findet ihr leicht dumpfer Ehemann Nick (Ben Affleck) einen zerstörten Tisch und umgeworfene Möbelstücke in ihrem Wohnzimmer und alarmiert die Polizei. Diese findet im Laufe der Ermittlungen immer mehr belastende Indizien, die Nick als potenziellen Mörder dastehen lassen. Während er selbst durch sein Verhalten immer wieder dafür sorgt, dass vor allem die Medien ihn bereits vorverurteilen, zeigt sich bald sehr deutlich, dass in diesem Fall nichts auch nur im Entferntesten so ist, wie es scheint.

Um es klar zu sagen: dass Amy, die weibliche Hauptfigur also, die abgrundtief sozio- und psychopathische Antagonistin ist, macht Gone Girl nicht zu einem frauenfeindlichen Film. Sie ist eine Figur, die man leidenschaftlich hassen kann, keine Frage, eine der grausamsten Schurken-Figuren der letzten Jahre, aber der Hass schwebt etwas in der Luft, weil Fincher nicht eine Sekunde den Zuschauer daran zweifeln lässt, dass Amy nicht so freundlich ist, wie sie tut. Amy ist stets unterkühlt, distanziert, Rosamund Pikes Chemie mit Ben Affleck ist de facto nicht existent, selbst in den „glücklichen“ Momenten nimmt man ihnen  ihre Beziehung nicht ab (zumal der Film gerad an dieser Stelle das Spiel mit der doppelten Wahnehmungsebene nicht aufbricht – man sieht die Vergangenheit nur durchs Amys sorgfältig gefiltertes Tagebuch). Amy ist in keinster Weise so charmant, wie es Soziopathen oft zu eigen ist, ihre Umgarnungstechniken begnügen sich, nach eigener Aussage, damit, mit ihrem tumben Mann Adam-Sandler-Filme zu schauen und ihm öfters einen zu blasen. So bedient Gone Girl vor allem Klischees – die Frau, die ihrem Mann Interesse, in welche Richtung auch immer, nur vorspielt und vom Mann, der nicht den Hauch von Empathie besitzt, um dies zu bemerken.

Letztlich leidet der Film vor allem unter seinen Charakteren. Amy ist kühl-berechnend, aber dies wird nie für einen Überraschungseffekt genutzt, sie wird nie zu einer Figur, die auch die Zuschauer hinters Licht führt (dies wurde, bei allen sonstigen Problemen, besser in dem 2013er Side Effects – Tödliche Nebenwirkungen gelöst) und dementsprechend plakativ wirkt. Man fragt sich nur nach dem Wie, weniger nach dem Warum. Ben Afflecks Nicks schlafwandelt derweil durch seine Szenen, seine Figur wird einerseits als unaufmerksamer Slacker gezeichnet, andererseits auch als Mann kodifiziert, der gar kein „richtiger“ Mann ist – schon allein, weil er eine Katze als Haustier hält. So weit, so dumm. Der „Twist“, dass der Mann bei seiner ihn missbrauchenden Frau bleibt und nicht andersherum, wie es sonst „richtig“ ist, verpufft als Kommentar zu einer wie auch immer gearteten Geschlechterdiskussion, weil Gone Girl insgesamt etwas zu sehr auf eine bloße Umstellung der Vorzeichen setzt. Im Grunde ist der Film die Geschichte einer misslungenen Ehe, in der der Mann, auch dass ein Klischee, sich mit der vollbusigen Studentin einlässt und die Frau, dank einer behandlungswürdigen Psychose, ihm eine denkbar durchdachte Falle stellt, die lediglich durch Neil Patrick Harris etwas aus dem Gleichgewicht gebracht wird.

Natürlich hat der Film ein Geschmäckle, wenn Amy Vergewaltigungen fälscht und sicher auf den medialen Reflex setzen kann: der Mann ist immer verdächtig. In der medialen Hexenjagd liegt denn auch das interessanteste Element des Films, dass aber sträflich vernachlässigt wird. Fincher gibt ein paar Stichworte und Eckdaten, steigt aber nie in einen wirklichen Diskurs beispielsweise über die amerikanische Medienwelt ein. Vielleicht hätte man so auch vermieden, dass Gone Girl manchmal wie ein Männerrechtler-Film wirkt: die Frauen betrügen uns doch wo sie nur können! Vertrau ihnen nicht! Doch, wie gesagt, weil der Film einen emotionalen Kern vermissen lässt (etwas, dass bei Fincher seit The Social Network und dem unglaublich-sinnlosen Remake von Verblendung beunruhigend sicher zum Repertoire zu gehören scheint) und sich dann doch eher für seine Thriller-Elemente interessiert denn für seine Gender- oder Mediendiskussion, bleibt auch dies eine Beobachtung unter vielen. Vielleicht liegt die Erkenntnis auch darin, Gone Girl nicht als frauenfeindlichen Film zu sehen, sondern als diskurs- und charakterfeindlichen.

Wer kompetent gemachte, gestalterisch ziemlich vorhersehbare Thriller-Ware sehen möchte, die 2 ½ Stunden durchaus spannend, aber eben auch ziemlich hinterfragungswürdig dahingleitet, dem sei Gone Girl empfohlen. Und eigentlich auf jenen, die gerne Debatten über Filme führen. Denn bei allen Problemen, Stoff für solche bietet Gone Girl mehr als genug.