BOYHOOD
USA 2014
Dt.
Erstaufführung: 05.06.2014
Regie: Richard
Linklater
Langzeitstudien
haben einen besonderen Reiz, weil sie Dinge sichtbar machen, die sonst im
Verborgenen bleiben. Das fängt bei Zeitrafferaufnahmen in der Sendung mit der Maus an, geht über
Internetvideos von Kindern, die einmal pro Woche von ihren Eltern gefilmt
werden, um Jahre der Entwicklung in vier Minuten mit anzusehen und endet bei
Michael Apteds Up-Reihe, die seit 1964
ihre Protagonisten alle sieben Jahre besucht, um ihr Leben dokumentarisch zu
begleiten. In narrativer Form verfolgt Richard Linklater dies seit 1993 mit
seiner Before-Serie in ähnlicher
Form. Mit mittlerweile drei Filmen hat er eine bemerkenswerte
Beziehungschronologie geschaffen, stets getragen von den grandiosen Dialogen,
die Linklater seinen Figuren in den Mund legt. Boyhood möchte nun nach ähnlichen Maßstäben funktionieren, wieder
ist das Thema Zeit präsent und der Entstehungsprozess ist an sich schon eine
beachtliche Leistung: man sieht, wie die Protagonisten aufwachsen – und zwar
nicht durch die Macht der Montage und des Castings, sondern weil sie wirklich
vor unseren Augen wachsen. Boyhood
hatte eine Produktionszeit von zwölf Jahren, immer wieder traf sich das Team,
um diese Coming-of-Age-Geschichte auf Film zu bannen. Das ist an sich eine
großartige Idee, ein mit Risiken behaftetes Unterfangen, von dem man durchaus
fasziniert sein kann, dass es sich überhaupt zu einem homogenen Ganzen
zusammenfügt. Doch kurioserweise liegt darin einer der Hauptgründe dafür
verborgen, dass Boyhood hinter den
Erwartungen zurückbleibt: es ist alles zu
homogen, zu glatt, ja zu beliebig. Es ist alles auf durchaus charmante Art
fluffig anzuschauen, aber es fehlen die definierenden Elemente und auch der
emotionale Anker. Denn Mason, der Junge, um den sich die ganze Aufregung dreht,
bleibt den Film über blass, ja, er verliert sogar immer, wenn Ethan Hawke auf
der Bildfläche erscheint und ihn gegen die Wand spielt. Der fehlende emotionale
Resonanzboden sorgt schlussendlich dazu, dass Boyhood ein bisschen wie eine Mogelpackung daherkommt.
Mason (Ellar
Coltrane) ist sechs, als wir ihm zum ersten Mal begegnen. Die folgenden Jahre,
bis er das Elternhaus verlässt und aufs College geht, werden wir uns immer
wieder in sein Leben schalten, werden sehen, was seine Mutter (Patricia
Arquette) für ein Händchen dabei beweist, sich immer wieder Alkoholiker als
Ehemänner anzulachen, wie sein Vater (Ethan Hawke) sich neu verliebt und ihn
und seine Schwester um einen Halbbruder bereichert und wie Mason mit den Tücken
der Erwachsenwerdens konfrontiert wird.
Der Erfolg der Before-Reihe hängt nicht unerheblich
damit zusammen, dass Linklater in jedem Film einen Lebensabschnitt verdichtet
und auf den Punkt bringt. In den wenigen Stunden, die man die Protagonisten
begleitet, findet sich die Weisheit, die Anmaßung, die Freude und der Schmerz
einer ganzen Phase, sei es die hoffungsfrohe Melancholie der Zwanziger oder die
einsetzende Midlifecrisis der Vierziger. Es hätte nicht geschadet, wenn
Linklater in punkto Boyhood diesen
Weg einfach erneut eingeschlagen hätte. Sicherlich wäre der Turnus ungleich
höher gewesen, aber was für ein unglaublicher Triumph wäre es gewesen, wenn man
12 Jahre an der Entwicklung Masons in Spielfilmform hätte teilhaben können? Dies
mag utopisch sein, vielleicht sogar anmaßend, diese Herkulesaufgabe überhaupt
in den Raum zu werfen, doch Boyhood
hätte so seiner Beliebigekeit womöglich entfliehen können. Mit einem Spielfilm
in jedem Jahr, der ähnlich wie die Before-Filme
konzentriert von einem Lebensabschnitt berichtet hätte, hätte Linklater nicht
nur eine Art Ergänzung zu der Geschichte von Jessie und Celine geschaffen (die
beiden lernte der Zuschauer erst kennen, als sie Anfang 20 waren), es hätte
vielleicht auch die Wirkung gehabt, die man bei Boyhood augenscheinlich erzielen wollte. Zumal eine gewisse
Dramatisierung des Ganzen durchaus angebracht gewesen wäre.
Boyhood ist voller großer Geschichten:
die elterliche Scheidung, die Probleme mit dem ersten Stiefvater, die
Selbstfindung der Mutter, die Probleme, die Mason als sensibler Künstler (so
ziemlich seine einzige ausformulierte Charakteristika) hat, weil sie nun einmal
auftreten, wenn man in einer Kultur aufwächst, die das Machogehabe noch nicht
vollständig abgelegt hat. Ausformuliert wird wenig und wenn man ein Problem
nicht lösen möchte, erlöst ein Schnitt, der ein Jahr überspringt, Linklater von
der Verantwortung. Dadurch entsteht die angesprochene Beliebigkeit, der
Unwille, in die Tiefe zu gehen, was Boyhood
letztlich oberflächlich macht. Der Rahmen ist gigantisch, aber konzentriertere
Coming-of-Age-Stories wie Stand by Me –
Das Geheimnis eines Sommers oder die deutsche, sträflich unbekannte
Produktion Fickende Fische sind Boyhood dann doch überlegen, weil sie
sich mit Haut und Haar auf die Figuren einlassen, auf ihre Gefühle, ihre
Ängste, ihre Leben. Linklater beobachtet hier nur, dokumentiert das Alltägliche
und kurioserweise werden die inszenatorischen Elemente zum Stolperstein, weil
man den Ausgang ja kennt – es geht weiter, egal, wie grauenhaft der Stiefvater
sich benimmt oder wie sehr Mason über ein Liebescomeback für seine Eltern
spekuliert. Das auch mit Klischees gearbeitet wird, ist in Ordnung, weil ja
auch das Heranwachsen immer etwas Klischeehaftes hat, weil jede Generation im
Grunde die gleichen Fehler macht (machen muss), um aus ihnen zu lernen. Dass
sie mitunter mit einer vehementen Unlust präsentiert werden, ist dabei weniger
erfreulich.
Es mag vielleicht
genau diese Uneindeutigkeit sein, die zum Erfolg von Boyhood beiträgt. Jeder Zuschauer kann so viel
hineininterpretieren, wie er oder sie will und womöglich ist auch die Poesie
des Normalen ein nicht zu unterschätzender Faktor. Hinzu kommt adaptierbare
Nostalgie und ein ständiges Stichwortwerfen, dass die Erinnerung an Teile der
eigenen Jugend triggern soll. Dies funktioniert manchmal sogar, eine gewisse
Universalität ist dem Film nicht abzusprechen, aber es sind stets nur kleine
Augenblicke im 2 ½ Stunden-Mammutwerk, dass gleichzeitig zu lang und zu kurz
wirkt. Zu lang, weil manchmal der quasi nicht-existente Plot zu sehr
durchscheint, zu kurz, weil vieles von dem, was der Film anspricht, eigentlich
ein eigenes 90-Minuten-Werk wert gewesen wäre.
Boyhood wird wahrscheinlich lange Zeit
für seinen Entstehungsprozess in Erinnerung bleiben. Es ist unbestreitbar
faszinierend, einen Menschen aufwachsen zu sehen, schon allein, weil man es
selbst nicht in dieser Form erleben kann – als Betroffener ist man einfach zu
sehr „in der Materie“. Doch lässt man dies außer Acht, was zugegebenermaßen
schwer fällt, weil der Prozess ein so elementarer Bestandteil der Werks ist,
ist Boyhood ein recht wenig
pointiertes Drama, dass auch durch die Passivität seiner Hauptfigur zu einer
bloßen Abfolge von Stichworten wird. Man will den Film mit jeder Faser seines
Herzens lieben und es ist sicherlich keine Zeitverschwendung, ihn sich zu
Gemüte zu führen, aber am Ende wartet man doch lieber auf den nächsten Beitrag
zur Before-Reihe. Boyhood ist kein Meisterwerk und es ist
ähnlich frustrierend wie die Pubertät, sich dies eingestehen zu müssen.
"die Poesie des Normalen" trifft es bei mir wohl besonders. Ich empfinde "Boyhood" genau aus diesem Grund als gelungen: die Konzentration auf die banalen Dinge des Erwachsenwerdens und nicht auf die extremen Dinge (Scheidungskind, familiäres Umfeld etc.). Denn das hat man in so vielen Varianten gesehen, dass es einem irgendwann als surreal erscheint. Die von dir erwähnten breiten Anknüpfungspunkte als Zuschauer sind dabei natürlich der Faktor schlechthin. "Boyhood" ist wie ein Ohrwurm, den du nicht mehr aus dem Kopf bekommst...
AntwortenLöschenSehe ich komplett anders. Ich fand den Film weder beliebig noch oberflächlich, sondern einfach sehr berührend, gerade dadurch, dass die "großen Erfahrungen" der Jugend überwiegend ausgelassen werden und stattdessen in aller Ausführlichkeit der Alltag gezeigt wird. Gerade in dieser Banalität liegt die große Wahrheit des Films.
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