Donnerstag, 5. März 2015

Boyhood (2014)




BOYHOOD
USA 2014
Dt. Erstaufführung: 05.06.2014
Regie: Richard Linklater

Langzeitstudien haben einen besonderen Reiz, weil sie Dinge sichtbar machen, die sonst im Verborgenen bleiben. Das fängt bei Zeitrafferaufnahmen in der Sendung mit der Maus an, geht über Internetvideos von Kindern, die einmal pro Woche von ihren Eltern gefilmt werden, um Jahre der Entwicklung in vier Minuten mit anzusehen und endet bei Michael Apteds Up-Reihe, die seit 1964 ihre Protagonisten alle sieben Jahre besucht, um ihr Leben dokumentarisch zu begleiten. In narrativer Form verfolgt Richard Linklater dies seit 1993 mit seiner Before-Serie in ähnlicher Form. Mit mittlerweile drei Filmen hat er eine bemerkenswerte Beziehungschronologie geschaffen, stets getragen von den grandiosen Dialogen, die Linklater seinen Figuren in den Mund legt. Boyhood möchte nun nach ähnlichen Maßstäben funktionieren, wieder ist das Thema Zeit präsent und der Entstehungsprozess ist an sich schon eine beachtliche Leistung: man sieht, wie die Protagonisten aufwachsen – und zwar nicht durch die Macht der Montage und des Castings, sondern weil sie wirklich vor unseren Augen wachsen. Boyhood hatte eine Produktionszeit von zwölf Jahren, immer wieder traf sich das Team, um diese Coming-of-Age-Geschichte auf Film zu bannen. Das ist an sich eine großartige Idee, ein mit Risiken behaftetes Unterfangen, von dem man durchaus fasziniert sein kann, dass es sich überhaupt zu einem homogenen Ganzen zusammenfügt. Doch kurioserweise liegt darin einer der Hauptgründe dafür verborgen, dass Boyhood hinter den Erwartungen zurückbleibt: es ist alles zu homogen, zu glatt, ja zu beliebig. Es ist alles auf durchaus charmante Art fluffig anzuschauen, aber es fehlen die definierenden Elemente und auch der emotionale Anker. Denn Mason, der Junge, um den sich die ganze Aufregung dreht, bleibt den Film über blass, ja, er verliert sogar immer, wenn Ethan Hawke auf der Bildfläche erscheint und ihn gegen die Wand spielt. Der fehlende emotionale Resonanzboden sorgt schlussendlich dazu, dass Boyhood ein bisschen wie eine Mogelpackung daherkommt.

Mason (Ellar Coltrane) ist sechs, als wir ihm zum ersten Mal begegnen. Die folgenden Jahre, bis er das Elternhaus verlässt und aufs College geht, werden wir uns immer wieder in sein Leben schalten, werden sehen, was seine Mutter (Patricia Arquette) für ein Händchen dabei beweist, sich immer wieder Alkoholiker als Ehemänner anzulachen, wie sein Vater (Ethan Hawke) sich neu verliebt und ihn und seine Schwester um einen Halbbruder bereichert und wie Mason mit den Tücken der Erwachsenwerdens konfrontiert wird.

Der Erfolg der Before-Reihe hängt nicht unerheblich damit zusammen, dass Linklater in jedem Film einen Lebensabschnitt verdichtet und auf den Punkt bringt. In den wenigen Stunden, die man die Protagonisten begleitet, findet sich die Weisheit, die Anmaßung, die Freude und der Schmerz einer ganzen Phase, sei es die hoffungsfrohe Melancholie der Zwanziger oder die einsetzende Midlifecrisis der Vierziger. Es hätte nicht geschadet, wenn Linklater in punkto Boyhood diesen Weg einfach erneut eingeschlagen hätte. Sicherlich wäre der Turnus ungleich höher gewesen, aber was für ein unglaublicher Triumph wäre es gewesen, wenn man 12 Jahre an der Entwicklung Masons in Spielfilmform hätte teilhaben können? Dies mag utopisch sein, vielleicht sogar anmaßend, diese Herkulesaufgabe überhaupt in den Raum zu werfen, doch Boyhood hätte so seiner Beliebigekeit womöglich entfliehen können. Mit einem Spielfilm in jedem Jahr, der ähnlich wie die Before-Filme konzentriert von einem Lebensabschnitt berichtet hätte, hätte Linklater nicht nur eine Art Ergänzung zu der Geschichte von Jessie und Celine geschaffen (die beiden lernte der Zuschauer erst kennen, als sie Anfang 20 waren), es hätte vielleicht auch die Wirkung gehabt, die man bei Boyhood augenscheinlich erzielen wollte. Zumal eine gewisse Dramatisierung des Ganzen durchaus angebracht gewesen wäre.
Boyhood ist voller großer Geschichten: die elterliche Scheidung, die Probleme mit dem ersten Stiefvater, die Selbstfindung der Mutter, die Probleme, die Mason als sensibler Künstler (so ziemlich seine einzige ausformulierte Charakteristika) hat, weil sie nun einmal auftreten, wenn man in einer Kultur aufwächst, die das Machogehabe noch nicht vollständig abgelegt hat. Ausformuliert wird wenig und wenn man ein Problem nicht lösen möchte, erlöst ein Schnitt, der ein Jahr überspringt, Linklater von der Verantwortung. Dadurch entsteht die angesprochene Beliebigkeit, der Unwille, in die Tiefe zu gehen, was Boyhood letztlich oberflächlich macht. Der Rahmen ist gigantisch, aber konzentriertere Coming-of-Age-Stories wie Stand by Me – Das Geheimnis eines Sommers oder die deutsche, sträflich unbekannte Produktion Fickende Fische sind Boyhood dann doch überlegen, weil sie sich mit Haut und Haar auf die Figuren einlassen, auf ihre Gefühle, ihre Ängste, ihre Leben. Linklater beobachtet hier nur, dokumentiert das Alltägliche und kurioserweise werden die inszenatorischen Elemente zum Stolperstein, weil man den Ausgang ja kennt – es geht weiter, egal, wie grauenhaft der Stiefvater sich benimmt oder wie sehr Mason über ein Liebescomeback für seine Eltern spekuliert. Das auch mit Klischees gearbeitet wird, ist in Ordnung, weil ja auch das Heranwachsen immer etwas Klischeehaftes hat, weil jede Generation im Grunde die gleichen Fehler macht (machen muss), um aus ihnen zu lernen. Dass sie mitunter mit einer vehementen Unlust präsentiert werden, ist dabei weniger erfreulich.

Es mag vielleicht genau diese Uneindeutigkeit sein, die zum Erfolg von Boyhood beiträgt. Jeder Zuschauer kann so viel hineininterpretieren, wie er oder sie will und womöglich ist auch die Poesie des Normalen ein nicht zu unterschätzender Faktor. Hinzu kommt adaptierbare Nostalgie und ein ständiges Stichwortwerfen, dass die Erinnerung an Teile der eigenen Jugend triggern soll. Dies funktioniert manchmal sogar, eine gewisse Universalität ist dem Film nicht abzusprechen, aber es sind stets nur kleine Augenblicke im 2 ½ Stunden-Mammutwerk, dass gleichzeitig zu lang und zu kurz wirkt. Zu lang, weil manchmal der quasi nicht-existente Plot zu sehr durchscheint, zu kurz, weil vieles von dem, was der Film anspricht, eigentlich ein eigenes 90-Minuten-Werk wert gewesen wäre.
Boyhood wird wahrscheinlich lange Zeit für seinen Entstehungsprozess in Erinnerung bleiben. Es ist unbestreitbar faszinierend, einen Menschen aufwachsen zu sehen, schon allein, weil man es selbst nicht in dieser Form erleben kann – als Betroffener ist man einfach zu sehr „in der Materie“. Doch lässt man dies außer Acht, was zugegebenermaßen schwer fällt, weil der Prozess ein so elementarer Bestandteil der Werks ist, ist Boyhood ein recht wenig pointiertes Drama, dass auch durch die Passivität seiner Hauptfigur zu einer bloßen Abfolge von Stichworten wird. Man will den Film mit jeder Faser seines Herzens lieben und es ist sicherlich keine Zeitverschwendung, ihn sich zu Gemüte zu führen, aber am Ende wartet man doch lieber auf den nächsten Beitrag zur Before-Reihe. Boyhood ist kein Meisterwerk und es ist ähnlich frustrierend wie die Pubertät, sich dies eingestehen zu müssen.




2 Kommentare:

  1. "die Poesie des Normalen" trifft es bei mir wohl besonders. Ich empfinde "Boyhood" genau aus diesem Grund als gelungen: die Konzentration auf die banalen Dinge des Erwachsenwerdens und nicht auf die extremen Dinge (Scheidungskind, familiäres Umfeld etc.). Denn das hat man in so vielen Varianten gesehen, dass es einem irgendwann als surreal erscheint. Die von dir erwähnten breiten Anknüpfungspunkte als Zuschauer sind dabei natürlich der Faktor schlechthin. "Boyhood" ist wie ein Ohrwurm, den du nicht mehr aus dem Kopf bekommst...

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  2. Sehe ich komplett anders. Ich fand den Film weder beliebig noch oberflächlich, sondern einfach sehr berührend, gerade dadurch, dass die "großen Erfahrungen" der Jugend überwiegend ausgelassen werden und stattdessen in aller Ausführlichkeit der Alltag gezeigt wird. Gerade in dieser Banalität liegt die große Wahrheit des Films.

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