Dienstag, 30. Juli 2013

The Sessions - Wenn Worte berühren (2012)




THE SESSIONS – WENN WORTE BERÜHREN
(The Sessions)
USA 2012
Dt. Erstaufführung: 03.01.2013
Regie: Ben Lewin

The Sessions ist ein Schauspielerfilm. Auf inhaltlicher Ebene gibt es an diesem auf einem wirklichen Leben basierenden Film ein paar Dinge zu kritisieren, aber das Darstellerensemble ist dermaßen gut, dass man bereitwillig die Schwächen übersieht. Dies ist ein gleichermaßen entspannter wie – für manche – provokanter Film.

Mark (John Hawkes) bekam als Kind Polio, was dazu führte, dass seine Muskeln unterhalb des Nackens funktionsuntüchtig wurden. Er ist auf eine eiserne Lunge angewiesen, die er für drei bis vier Stunden verlassen kann. Mit 38 Jahren ist Mark Schriftsteller und Journalist – und Jungfrau. Da er sein „Verfallsdatum“ kommen sieht, beschließt er, auch im Zuge der Recherche eines Artikels über das Sexleben von Körperbeeinträchtigten, an diesem Umstand etwas zu ändern. Mit der geistigen Unterstützung seines liberalen Pastors Brendan (William H. Macy) gerät Mark schließlich an die Sextherapeutin Cheryl (Helen Hunt), mit der er seine Jungfräulichkeit endlich verlieren möchte.

Dass Sex für die allermeisten Menschen in der ein oder anderen Form zum Leben dazugehört, ist keine große Weisheit. Ebenso bedarf es kaum mehr als ein paar funktionierender Synapsen, um sich auszumalen, dass dies auch für sogenannte Behinderte gilt. Nur im Zuge der fortwährenden gesellschaftlichen Marginalisierung dieser Gruppe, die glücklicherweise immer weiter aufgebrochen wird, dürfte dieser Umstand immer noch ein kleiner Schock für manchen sein. Ein Mann, der sich nicht einmal an der Nase kratzen kann, soll Sex haben? Mehr noch, es sogar wollen? The Sessions macht nicht viel Aufruhr darum, dass er Mark exemplarisch aus der Rolle herausholt, in der viele Körperbeeinträchtigte immer noch nach den Statuten der Gesellschaft stecken: die es einsam leidenden „Krüppels“. Genauso uninteressant findet der Film es, den Zuschauer ständig darauf hinzuweisen, dass er auf dem Artikel On Seeking a Sex Surrogate des realen Mark O’Brien basiert, dessen Lebenssituation so gestaltet war wie im Film dargestellt. Wie erwähnt, The Sessions ist ein entspannter Film.

Viel mehr noch, es ist gleichzeitig ein witziger und ernsthafter Film über Sexualität. Es wird nichts beschönigt oder auf eine Hochglanz-Ästhetik gebracht. Wenn Helen Hunt sich auszieht und zu Mark ins Bett steigt ist dies kein Moment, die dem Zuschauer erotische Gefühle bereiten soll. Die Kamera behandelt Hunt ebenso wenig als Objekt wie sie es mit Mark tut, egal in welcher Situation er sich nun befindet. Nacktheit und Sexualität sind vielmehr als normal kodifiziert – ziemlich ungewöhnlich für einen Film, wenn auch unabhängig produziert, aus den USA. Es gibt keine erotische Ausbeutung der Situationen, auch sind die Probleme, die sich ergeben, eher „typisch“ als auf Marks Zustand zurückzuführen. Wie Teenager bei ihren ersten sexuellen Erfahrungen müssen sich Cheryl und Mark erst aufeinander einstellen, bevor das Erlebnis wirklich Lust für beide bedeutet. The Sessions macht aus Sexualität kein Geheimnis, keinen pubertären Mythos und ist auch von jedem die Gegebenheiten ausbeutenden Ansatz meilenweit entfernt. Dem selbst an Polio erkrankten Regisseur Ben Lewin ist ein wahrlich ausgezeichneter Feel-Good-Film gelungen.

Daran haben die Darsteller den größten Verdienst. John Hawkes spielt Mark naturgegeben nur mit dem Gesicht und macht dies mit einer enormen Präsenz. Helen Hunt brilliert als emotional komplexe Cheryl und William H. Macy hat sichtlich enormen Spaß in seiner Rolle als liberaler katholischer Pastor. Mag diese Figur auch den Hauch von Künstlichkeit umwehen (wer die katholische Kirche von innen kennt, weiß, was gemeint ist), Macy macht jede seiner Szenen zu einem Genuss. Das lediglich Helen Hunt bei den letzten Oscarverleihungen mit einer Nominierung bedacht wurde, erscheint dabei geradezu ungerecht.

Gegen Ende gerät The Sessions etwas ins Straucheln. Der wirkliche Marc O’Brien verstarb im Alter von 49 Jahren und der Film zeigt seine Beerdigung. Das er zuvor seine spätere Frau kennenlernte thematisiert der Film nicht weiter. Vielmehr springt er von „Alles wird gut“ zu „Jahre später ist Marc tot“. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass eine Texttafel über die Geschehnisse ausgereicht hätte, wenn man vorher noch länger an Marcs Leben teilgenommen hätte, schließlich war sein Leben interessanter als die Tatsache, dass auch er sterben muss. Dies hat einen sehr seltsamen Beigeschmack, als wäre es ein Muss, dass der Protagonist im Independentfilm am Ende tot sein muss. Der Film nimmt sich die Freiheit, nur Marcs Suche nach Sexualität als Gegenstand der Handlung zu haben, nicht etwa seine Arbeit als Journalist, darum hätte er sich auch die Freiheit nehmen können, ein weniger plakatives Ende zu wählen. Es geht nicht darum, ein artifizielles Happy End entgegen aller Realitäten durchzuboxen, sondern Marc das würdige Filmende zu gönnen, das er als Mensch und fiktionalisierte Figur verdient hat. Und da wäre das Bild eines glücklichen Mannes mitsamt Ehefrau sicherlich besser gewählt gewesen als ein Sarg.

Doch abgesehen von dem Endpatzer ist The Sessions ein gelungener Film mit hervorragenden Darstellern, viel Herzenswärme und viel Intelligenz im Umgang mit seinen Figuren und der Thematik. Es ist ein offener, freundlicher, lebensbejahender Film. Körperbeeinträchtigung ist kein Hindernis, für nichts. Wer diese (an sich) Banalität noch nicht wusste, weiß es spätestens nach The Sessions.



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