THE SESSIONS – WENN WORTE
BERÜHREN
(The Sessions)
USA 2012
Dt. Erstaufführung: 03.01.2013
Regie: Ben Lewin
Dt. Erstaufführung: 03.01.2013
Regie: Ben Lewin
The
Sessions ist ein Schauspielerfilm. Auf inhaltlicher Ebene gibt es an diesem
auf einem wirklichen Leben basierenden Film ein paar Dinge zu kritisieren, aber
das Darstellerensemble ist dermaßen gut, dass man bereitwillig die Schwächen
übersieht. Dies ist ein gleichermaßen entspannter wie – für manche –
provokanter Film.
Mark (John Hawkes) bekam als Kind Polio, was dazu führte,
dass seine Muskeln unterhalb des Nackens funktionsuntüchtig wurden. Er ist auf
eine eiserne Lunge angewiesen, die er für drei bis vier Stunden verlassen kann.
Mit 38 Jahren ist Mark Schriftsteller und Journalist – und Jungfrau. Da er sein
„Verfallsdatum“ kommen sieht, beschließt er, auch im Zuge der Recherche eines
Artikels über das Sexleben von Körperbeeinträchtigten, an diesem Umstand etwas
zu ändern. Mit der geistigen Unterstützung seines liberalen Pastors Brendan
(William H. Macy) gerät Mark schließlich an die Sextherapeutin Cheryl (Helen
Hunt), mit der er seine Jungfräulichkeit endlich verlieren möchte.
Dass Sex für die allermeisten Menschen in der ein oder
anderen Form zum Leben dazugehört, ist keine große Weisheit. Ebenso bedarf es
kaum mehr als ein paar funktionierender Synapsen, um sich auszumalen, dass dies
auch für sogenannte Behinderte gilt. Nur im Zuge der fortwährenden
gesellschaftlichen Marginalisierung dieser Gruppe, die glücklicherweise immer
weiter aufgebrochen wird, dürfte dieser Umstand immer noch ein kleiner Schock
für manchen sein. Ein Mann, der sich nicht einmal an der Nase kratzen kann,
soll Sex haben? Mehr noch, es sogar wollen? The
Sessions macht nicht viel Aufruhr darum, dass er Mark exemplarisch aus der Rolle
herausholt, in der viele Körperbeeinträchtigte immer noch nach den Statuten der
Gesellschaft stecken: die es einsam leidenden „Krüppels“. Genauso uninteressant
findet der Film es, den Zuschauer ständig darauf hinzuweisen, dass er auf dem
Artikel On Seeking a Sex Surrogate
des realen Mark O’Brien basiert, dessen Lebenssituation so gestaltet war wie im
Film dargestellt. Wie erwähnt, The
Sessions ist ein entspannter Film.
Viel mehr noch, es ist gleichzeitig ein witziger und
ernsthafter Film über Sexualität. Es wird nichts beschönigt oder auf eine
Hochglanz-Ästhetik gebracht. Wenn Helen Hunt sich auszieht und zu Mark ins Bett
steigt ist dies kein Moment, die dem Zuschauer erotische Gefühle bereiten soll.
Die Kamera behandelt Hunt ebenso wenig als Objekt wie sie es mit Mark tut, egal
in welcher Situation er sich nun befindet. Nacktheit und Sexualität sind
vielmehr als normal kodifiziert – ziemlich ungewöhnlich für einen Film, wenn
auch unabhängig produziert, aus den USA. Es gibt keine erotische Ausbeutung der
Situationen, auch sind die Probleme, die sich ergeben, eher „typisch“ als auf
Marks Zustand zurückzuführen. Wie Teenager bei ihren ersten sexuellen
Erfahrungen müssen sich Cheryl und Mark erst aufeinander einstellen, bevor das
Erlebnis wirklich Lust für beide bedeutet. The
Sessions macht aus Sexualität kein Geheimnis, keinen pubertären Mythos und
ist auch von jedem die Gegebenheiten ausbeutenden Ansatz meilenweit entfernt. Dem
selbst an Polio erkrankten Regisseur Ben Lewin ist ein wahrlich ausgezeichneter
Feel-Good-Film gelungen.
Daran haben die Darsteller den größten Verdienst. John
Hawkes spielt Mark naturgegeben nur mit dem Gesicht und macht dies mit einer
enormen Präsenz. Helen Hunt brilliert als emotional komplexe Cheryl und William
H. Macy hat sichtlich enormen Spaß in seiner Rolle als liberaler katholischer
Pastor. Mag diese Figur auch den Hauch von Künstlichkeit umwehen (wer die
katholische Kirche von innen kennt, weiß, was gemeint ist), Macy macht jede
seiner Szenen zu einem Genuss. Das lediglich Helen Hunt bei den letzten Oscarverleihungen
mit einer Nominierung bedacht wurde, erscheint dabei geradezu ungerecht.
Gegen Ende gerät The
Sessions etwas ins Straucheln. Der wirkliche Marc O’Brien verstarb im Alter
von 49 Jahren und der Film zeigt seine Beerdigung. Das er zuvor seine spätere
Frau kennenlernte thematisiert der Film nicht weiter. Vielmehr springt er von „Alles
wird gut“ zu „Jahre später ist Marc tot“. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren,
dass eine Texttafel über die Geschehnisse ausgereicht hätte, wenn man vorher
noch länger an Marcs Leben teilgenommen hätte, schließlich war sein Leben
interessanter als die Tatsache, dass auch er sterben muss. Dies hat einen sehr
seltsamen Beigeschmack, als wäre es ein Muss, dass der Protagonist im Independentfilm
am Ende tot sein muss. Der Film nimmt sich die Freiheit, nur Marcs Suche nach
Sexualität als Gegenstand der Handlung zu haben, nicht etwa seine Arbeit als
Journalist, darum hätte er sich auch die Freiheit nehmen können, ein weniger
plakatives Ende zu wählen. Es geht nicht darum, ein artifizielles Happy End
entgegen aller Realitäten durchzuboxen, sondern Marc das würdige Filmende zu
gönnen, das er als Mensch und fiktionalisierte Figur verdient hat. Und da wäre
das Bild eines glücklichen Mannes mitsamt Ehefrau sicherlich besser gewählt
gewesen als ein Sarg.
Doch abgesehen von dem Endpatzer ist The Sessions ein gelungener Film mit hervorragenden Darstellern,
viel Herzenswärme und viel Intelligenz im Umgang mit seinen Figuren und der
Thematik. Es ist ein offener, freundlicher, lebensbejahender Film.
Körperbeeinträchtigung ist kein Hindernis, für nichts. Wer diese (an sich)
Banalität noch nicht wusste, weiß es spätestens nach The Sessions.
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