Dienstag, 23. Juli 2013

Der Geschmack von Rost und Knochen (2012)




DER GESCHMACK VON ROST UND KNOCHEN
(De rouille et d‘os)
Frankreich/Belgien 2012
Dt. Erstaufführung: 10.01.2013
Regie: Jacques Audiard

Alain (Matthias Schoenaerts) verlässt mit seinem fünfjährigen Sohn Sam (Armand Verdure) Belgien, um bei seiner ihm entfremdeten Schwester in Frankreich zu leben, nachdem die Beziehung zu seiner nicht unkomplizierten Freundin endgültig zu Ende gegangen ist. Alain schlägt sich als Türsteher einer Disco durch. Dort ist es auch, wo er Stéphanie (Marion Cotillard) kennenlernt, die von einem rüpelhaften Gast verprügelt wurde. Alain fährt sie nach Hause, erfährt dort, dass sie als Trainerin für Orcas in einem Sea World-esken Park arbeitet und verschwindet wieder. Erst nachdem Stéphanie bei einem Unfall im Park ihre Beine verliert, nimmt sie wieder Kontakt mit dem bulligen, emotional unterentwickelten Alain auf. Beiden ist zunächst nicht ganz klar, was sie aus dieser Beziehung ziehen sollen, doch im Laufe der Zeit entwickelt sich eine fragile Freundschaft, die für beide zum schmerzlichen Lernprozess über sich selbst wird.

Der Geschmack von Rost und Knochen ist ein Film über gequälte Kreaturen. Stéphanies Schicksalsschlag ist eindeutig, der Satz „Was habt ihr mit meinen Beinen gemacht?“ hängt schwer nicht über einer äußerst effektiven Krankenhausszene. Doch ganz davon abgesehen ist die neue Situation der Hilfsbedürftigkeit für sie nur schwer zu ertragen. Nicht nur, weil sie unabhängig bleiben möchte, sondern auch, weil Stéphanie keine Frau der großen Gefühle ist. Die Beziehung zu ihrem Freund bricht sie mit dem lakonischen Satz „Ich gehe wieder meinen eigenen Weg“ ab. Alain ist ebenso kein emotionales Wunderkind. Die Beziehung zu seinem Sohn ist von Alains mangelnder Geduld und seinem aufbrausenden Temperament gekennzeichnet. Er bemüht sich, ein guter Vater zu sein, aber er hat weder die Reife noch die Liebe, es wirklich zu sein. Was nicht heißen soll, dass Alain Sam nicht liebt, es fehlt ihm aber nicht nur an Emotionalität, sondern damit einhergehend auch an Empathie. Es gibt Szenen von erschreckendem Realismus in diesem Film, zum Beispiel wenn Alain Sam gegen eine Tischkante fallen lässt. Fast noch erschreckender ist Alains Verständnislosigkeit auf das folgende Weinen seines Sohns. Auch hier gibt es einen programmatischen Satz: „Du hast kalte Hände“ sagt Sam oft, wenn er in Körperkontakt zu seinem Vater tritt. Schoenaerts vermeidet dabei, wie alle anderen Schauspieler auch, eine einseitige Charakterisierung. Man spürt, dass etwas tief in Alain den Schmerz, den er verursacht, versteht, er aber schlicht nicht in der Lage ist, diesen Gefühlen Raum zu geben. Zu guter Letzt gehören auch die von Stéphanie trainierten Orcas zu den Gequälten dieses Films. Der Film lebt neben den kongenialen Darstellern auch von seiner Fotografie, bei der atemberaubende Schönheit und tiefgreifende Traurigkeit oft sehr nah zusammen liegen und die Orcas machen da keine Ausnahme. Wenn sie sich zu Künststückchen aus dem Wasser katapultieren, legen die Bilder bereits fest, dass dies eine Kraft ist, die nicht kontrollierbar ist, auch nicht von der kalten Stéphanie. Der Geschmack von Rost und Knochen geht nicht so weit, ein Kommentar über die Haltungsbedingungen und die damit einhergehenden Gefährdungen von Menschen durch Orcas zu werden, aber neben den menschlichen Dramen, die der Film zuhauf portraitiert, schwingt auch ein bisschen eine Attitüde von „Wer sich in Gefahr begibt...“ mit, die dem Ganzen eine weitere faszinierende Note hinzufügt.

Wenn es Probleme innerhalb der Narration gibt, dann tauchen sie im dritten Akt gehäuft auf. Alains zweiter Job bei einer windigen „Sicherheitsfirma“, die auf Managergeheiß Angestellte in Bau- und Supermärkten mit Kameras überwacht, hat direkte Auswirkungen auf Alains Umfeld und lässt die Figur geradezu dümmlich erscheinen. Auch wenn Alain ein Mann ist, der sich zuerst um sich selbst kümmert, so wenig Weitsicht, wie ihm hier angedichtet wird, spannt den Bogen doch etwas über. Die daraus resultierende Rolle Stéphanies als Alains Quasi-Managerin bei dessen eigentlicher beruflicher Passion, dem Boxen, kann man als Zurückgewinnung von Autonomie lesen, hat aber auch einen gewissen Touch von Trashfilm. Und das Ende wirkt etwas forciert, als wolle Regisseur Jacques Audiard (Ein Prophet) weder seinen Figuren noch seinen Zuschauern ein Happy-End vergönnen, dass so gut wie alle Probleme, die sich im Laufe der Zeit angesammelt haben, mit wenigen Einstellungen und so gut wie ohne Worte löst. Dies wirkt eher wie Verlegenheit aus Unschlüssigkeit, wie man ein so gewaltiges Drama enden lassen könnte, denn ein organischer Abschluss für einen Film, der sich zuvor nicht mit einfachen Antworten zufriedengegeben hat.

Trotz der Schwächen im dritten Akt ist Der Geschmack von Rost und Knochen ein großartiger Film. Die Schauspieler sind famos, auch weil sich keiner über den anderen erhebt. Marion Cotillard (Contagion, The Dark Knight Rises) ist zwar die bekanntere Schauspielerin, aber Schoenaerts (Bullhead) besteht neben ihr mit Bravour. Sowohl Alain als auch Stéphanie sind keine typischen Leinwandhelden, sondern vielfach gebrochene, nicht immer sympathische Charaktere, deren Vielschichtigkeit das Interesse die gesamte Spielzeit über interessant bleibt. Hinzu kommen die wunderschöne Kameraarbeit, die souveränen Effekte (Cotillards Beine wirken wie wirklich amputiert und wann mit welchen Tricks gearbeitet wurde ist nicht zu ersehen) und das intelligente Drehbuch. Der Geschmack von Rost und Knochen ist pures Kino: eine emotionale Tour-de-Force, getragen von viel Know-How vor und hinter der Kamera. Wenn das Jahr zu Ende geht, wird dieser Film sicherlich als eins der befriedigendsten Leinwanderlebnisse 2013 aus dem Rennen gehen.



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