Donnerstag, 8. Mai 2014

Rubber (2010)




RUBBER
Frankreich/Angola 2010
Dt. Erstaufführung: 01.07.2011 (DVD-Premiere)
Regie: Quentin Dupieux

Das englischsprachige Filmplakat von Rubber fragt programmatisch: „Are you tired of the expected?“ Das ist gleichermaßen ein spielerischer Hinweis auf den Protagonisten des Films (tired beinhaltet das Wort tire, also Reifen) als auch eine Art Kampfansage – Rubber wird wie auch immer geartete Erwartungshaltungen nicht befriedigen, schon gar nicht Exploitation-Gelüste, die durch das reißerische deutsche DVD-Cover geweckt werden könnten. Vielmehr wird der in allen Belangen bizarre Film zu einer um die Ecke gedachten Hommage an das Kino an sich, an seine Möglichkeiten, an seine Fähigkeiten. Regisseur Quentin Dupieux hat einen Low-Budget-Trash-Kunstfilm inszeniert, der sich voll und ganz im Klaren darüber ist, wie limitiert seine Vermarktungsmöglichkeiten sind. Rubber ist weit von jedem Mainstreamkino entfernt, doch wer sich auf den schrägen Trip einlässt, wird womöglich sehr viel mehr finden, als er zu entdecken gehofft hatte.

In der Wüste, in der Nähe eines verschlafenen Städtchens, wird eine Gruppe Menschen von einem Polizisten (Stephen Spinella) darüber informiert, dass das Element der Willkür das stärkste im Film überhaupt sei. Dinge passieren einfach so. Kurz darauf verfolgt das Publikum mit Ferngläsern, wie Robert, ein Autoreifen, zum Leben erwacht und herausfindet, dass er Kraft seiner Gedanken Tiere zum explodieren und menschliche Köpfe zum zerbersten bringen kann. Erbost über den Umgang der Menschen mit Reifen startet er einen verheerenden Rachefeldzug, während er gleichzeitig eine Obsession für die mysteriöse Sheila (Roxane Mesquida) entwickelt…

Ja, möchte man sagen, dies ist wirklich die Story von Rubber. Ein mordender Autoreifen. Aber warum auch nicht? Ist die Story wirklich schwachsinniger als die beispielsweise von Scanners – Ihre Gedanken können töten? Oder die von Toy Story? Wie das gemeint ist? Film ist ein Medium der Manipulation, ein Medium des Irrealen. So sehr wir uns auch damit identifizieren können, dass unser Spielzeug zum Leben erwacht oder wir uns davor gruseln mögen, dass uns jemand nur Kraft seiner Gedanken töten könnte, es sind doch abwegige Konstrukte, die nur im Kontext des fiktionalen Reservats Film funktionieren. Die Willkür, die am Beginn angesprochen wird, ist als Zugeständnis an das Irreale zu verstehen – im Film passieren eben Dinge, die in der schnöden Wirklichkeit nicht passieren (können), weil das Medium durch Tricks und Winkelzüge zu so einer großen Suggestionskraft fähig ist. So ist Roberts Bewusstwerdung nicht erklärbar, weil Film diese Legitimationen eigentlich nicht braucht. Wer sich dieser Kunstform, gerade in ihrer phantastischen Ausrichtung, nähert, weiß, dass er sich auf etwas im besten Sinne weltfremdes einlässt. Selbst das realistisch gezeichnete Drama beinhaltet dieses Element, führt doch erst das Vorspielen von festgelegten Abläufen und die Montage zu einem Gesamtergebnis, das so nicht einem gänzlich realen Ereignis entspricht.

Zudem ist Robert, der Reifen, ein schönes Beispiel für die Abstraktionsfähigkeit des Publikums. Man ist daran gewohnt, seine Gefühle und Erwartungen auf menschliche oder tierische Figuren zu projizieren, im Grunde auf alles, was ein Gesicht (oder die Anmutung dessen) besitzt. Darum funktioniert Toy Story, darum funktionieren Disney-Filme mit sprechenden Tieren. Dupieux verlangt hier vom Zuschauer, seine Gefühle auf etwas gänzlich im Wortsinne unmenschliches zu übertragen. Ein Reifen gehört nicht gerade zu den Sympathieträgern in Alltag und Kunst, als Gebrauchsgegenstand würde man ihn auch kaum als Protagonisten für irgendetwas heranziehen. Dann hat er keinerlei Ausdrucksmöglichkeiten, kein Gesicht, keine Stimme, keine Extremitäten. Rubber geht noch einen Schritt weiter als Chuck Jones in seinem meisterhaften Kurzfilm The Dot and the Line, in der die Charaktere, eben ein Punkt und eine Linie, immerhin noch durch ein Voice-Over erfahrbar gemacht wurden. Robert steht dies nicht zur Verfügung und dennoch ertappt man sich dabei, wie man ihn versteht, von seinen ersten „Gehversuchen“ bis zur Erschütterung ob des beobachteten Reifengenozids auf einer Müllhalde, auf der sie massenhaft verbrannt werden. Wenn Robert nach einem langen Tag unter einem Baum umfällt, weiß man, dass er sich nun schlafen gelegt hat. Es sind minimale Bewegungen, gestalterisch gekonnt umgesetzte Suggestionen von Gefühlen, die uns Robert tatsächlich näher bringen. Rubber beweist einmal mehr, dass man aus allem, wirklich allem, einen Charakter machen kann.

So zwingt Dupieux den Zuschauer geradezu, über das Medium Film an sich nachzudenken. Das Publikum steht dann auch quasi mittendrin im Geschehen und ein Schelm, wer böses dabei denkt, dass derjenige Observator (Wings Hauser), der am meisten bei der Handlung mitdenkt, am längsten im Film verweilen darf, während alle anderen sich buchstäblich vom Veranstalter (Jack Plotnick) einlullen (sprich: vergiften) lassen.
Das alles kommt im handwerklich sehr ansehnlichen Gewand daher und hält die Aufmerksamkeit trotz einiger Längen aufrecht. Schwankend zwischen Trash-Horror und absurdem Theater, Medienwirkungsanalyse und Medienparodie fällt Dupieux immer wieder eine neue Situation, ein neuer skurriler visueller Reiz ein. Am Ende ahnt Rubber sogar das Finale vom einen Jahr später erschienenen Planet der Affen: Prevolution voraus und wird endgültig zum augenzwinkernden Kommentar auf die Funktionsweisen des großen Unterhaltungskinos. Die Reifen erheben sich, um gegen die Knechtschaft der Menschen zu rebellieren. Wird die Prämisse in Avatar – Aufbruch nach Pandora verwendet, reicht es zum weltweiten Kassenschlager, hier „nur“ zum angehenden Kultfilm. Denn in einer abstrusen und gleichzeitig cleveren Art hat der Film dieses Potenzial auf jeden Fall vollends ausgeschöpft. Rubber ist ein sehr spezieller Film – und das ist als großes Kompliment gemeint.

 



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