71 FRAGMENTE EINER
CHRONOLOGIE DES ZUFALLS
Österreich/Deutschland 1994
Dt. Erstaufführung: 26.10.1995
Regie: Michael Haneke
Dt. Erstaufführung: 26.10.1995
Regie: Michael Haneke
Mit einem Titelungetüm wie diesem ist
es ziemlich klar: dies ist ein Werk aus der Reihe Der besondere Film, was eindeutig als Kompliment gemeint ist. Denn
Michael Hanekes Film ist wahrlich ein besonderes Erlebnis, dass eine ungemeine
Sogwirkung entfaltet und dem Zuschauer gleichermaßen fordert wie ihn mit
interessanten medienreflexiven versorgt.
Der auch unter dem reichlich simplen Titel Amok bekannte Film besteht aus 71
Szenenbausteinen, die das Leben von unterschiedlichen Menschen bis zum 23.
Dezember 1993 verfolgen. Da ist der rumänische Flüchtlingsjunge (Gabriel Cosmin
Urdes), der sich illegal bis nach Wien durchgeschlagen hat, ein alter Mann,
dessen Familie keine Zeit für ihn hat, eine Familie, die an der Erkrankung der
Tochter zu zerbrechen droht und ein Ehepaar, dass jüngst ein extrem
introvertiertes Mädchen adoptiert hat. All ihre Geschichten werden an jenem
Vorweihnachtstag in einer Wiener Bankfiliale zusammenfinden, als ein Student
einen Amoklauf begeht und drei Menschen tötet.
Bevor erzürnte Leser das Wort Spoiler in den Raum werfen:
Das Ende von 71 Fragmente ist von
vornherein bekannt, informiert doch eine Texttafel gleich zu Beginn über den
blutigen Ausgang der Geschehnisse. Darum geht es auch nicht um den Schockeffekt
des Unvorhergesehenen, sondern um das Wie. Und nur das Wie, denn auch das Warum
bleibt Haneke schuldig. Warum verliert ein junger Mann, der eigentlich gerade
auf dem Weg zu seinen Eltern ist, so die Kontrolle, dass er das Feuer auf
Unschuldige eröffnet? Weil seine Scheckkarte an der Tankstelle nicht angenommen
wurde und er eine sehr rüde Begegnung mit einem Sicherheitsmann in der
Bankfiliale hatte? Reicht dies als Erklärung aus? 71 Fragmente lässt den Zuschauer allein mit dieser Frage, weil er
sich gar nicht erst anmaßt, die ganzen Dimensionen einer solchen Wahnsinnstat
ergründen zu können. Zumal die Gewalt in das bürgerliche, das zivilisierte Wien
einbricht, dort, wo man es nicht erwarten würde. In Krisenherden, ja, aber doch
nicht in Wien.
Diesen Aspekt unterstreicht Haneke mit clever eingesetzten
Stücken aus den damals tagesaktuellen Nachrichten: Konflikte und Kriege wohin
man blickt, der Balkan bricht auseinander und man könnte jeden flüchtig in
Erscheinung tretenden Menschen in den Bildern einen eigenen Film widmen. Doch
in der Wahrnehmung bleiben sie konturenlos, eine Nachricht, nicht mehr. Und vor
allem weit weg. So gelingt Haneke am Ende ein wahrer Geniestreich, wenn er
zunächst einen Nachrichtenblock zeigt, der zunächst vom Krieg berichtet und
nahtlos in eine Meldung über Michael Jackson übergeht. Dann, nachdem der Film
den Amoklauf schildert, sehen wir diese beiden Meldungen erneut, nur diesmal
mit dem Bericht über eben jenen Amoklauf vorangestellt, was die gesamte
Gewichtung verändert. Wir wissen, dass Menschen, deren Leben wir zuvor in den
titelgebenden Fragmenten kennengelernt haben, tot sind und ihr Umfeld schwer
getroffen sein wird. Wir wissen, dass Trauer, Entsetzen und Vorwürfe folgen
werden und wir sehen die kurze Meldung in den Nachrichten und denken: Das ist
nicht angemessen. Doch genauso unangemessen ist eine 1 Minute 30 lange
Berichterstattung über einen tödlichen Konflikt, gefolgt von einer Meldung, in
der sich schwerwiegende Vorwürfe und popkulturelle Faszination auf krude Weise
mischen. Das Schicksal wird zum kurzen Informationshappen, der leicht
verdaulich ist und auch schnell wieder vergessen. Nach 71 Fragmente ist es nicht mehr so einfach, die Tagesschau zu goutieren.
Hanekes distanzierter Stil führt nicht dazu, dass man die
Protagonisten nicht kennenlernt. Die hervorragenden Darsteller legen ungemein
viel in die oft recht kurzen Vignetten, ihre Schicksale sind prägnant und
emotional nachvollziehbar dargestellt. Und der Amokschütze ist kein Monster,
was das Unbehagen nur noch steigert. Da man von Anfang an weiß, wie der Film
ausgehen wird, sucht man fieberhaft nach Anhaltspunkten, die die Tat erklären
könnten, aber diese werden weitestgehend verweigert. Das mag schwierig zu
akzeptieren sein, aber Haneke ist klug genug, nicht auf Küchenpsychologie
zurückzugreifen. Eben in dieser nebulösen Sphäre liegt die große Faszination,
die der Film ausübt. Die durch Schwarzbild voneinander getrennten Fragmente
zwingen den Betrachter zur Aufmerksamkeit, er wird involviert in das Leben
seiner Figuren und durch die Verbindung mit dem medienkritischen Element wird
es am Ende umso schlagkräftiger. Unmenschlichkeit gibt es in 71 Fragmente einer Chronologie des Zufalls
an vielen Orten – Medien, Familien, Politik – und eben weil sich Haneke so
konsequent zurückhält, wird seine Anklage umso lauter und eindringlicher.
[LEIDER KEIN TRAILER VORHANDEN]
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen