Freitag, 20. September 2013

71 Fragmente einer Chronologie des Zufalls (1994)




71 FRAGMENTE EINER CHRONOLOGIE DES ZUFALLS
Österreich/Deutschland 1994
Dt. Erstaufführung: 26.10.1995
Regie: Michael Haneke

Mit einem Titelungetüm wie diesem ist es ziemlich klar: dies ist ein Werk aus der Reihe Der besondere Film, was eindeutig als Kompliment gemeint ist. Denn Michael Hanekes Film ist wahrlich ein besonderes Erlebnis, dass eine ungemeine Sogwirkung entfaltet und dem Zuschauer gleichermaßen fordert wie ihn mit interessanten medienreflexiven versorgt.

Der auch unter dem reichlich simplen Titel Amok bekannte Film besteht aus 71 Szenenbausteinen, die das Leben von unterschiedlichen Menschen bis zum 23. Dezember 1993 verfolgen. Da ist der rumänische Flüchtlingsjunge (Gabriel Cosmin Urdes), der sich illegal bis nach Wien durchgeschlagen hat, ein alter Mann, dessen Familie keine Zeit für ihn hat, eine Familie, die an der Erkrankung der Tochter zu zerbrechen droht und ein Ehepaar, dass jüngst ein extrem introvertiertes Mädchen adoptiert hat. All ihre Geschichten werden an jenem Vorweihnachtstag in einer Wiener Bankfiliale zusammenfinden, als ein Student einen Amoklauf begeht und drei Menschen tötet.

Bevor erzürnte Leser das Wort Spoiler in den Raum werfen: Das Ende von 71 Fragmente ist von vornherein bekannt, informiert doch eine Texttafel gleich zu Beginn über den blutigen Ausgang der Geschehnisse. Darum geht es auch nicht um den Schockeffekt des Unvorhergesehenen, sondern um das Wie. Und nur das Wie, denn auch das Warum bleibt Haneke schuldig. Warum verliert ein junger Mann, der eigentlich gerade auf dem Weg zu seinen Eltern ist, so die Kontrolle, dass er das Feuer auf Unschuldige eröffnet? Weil seine Scheckkarte an der Tankstelle nicht angenommen wurde und er eine sehr rüde Begegnung mit einem Sicherheitsmann in der Bankfiliale hatte? Reicht dies als Erklärung aus? 71 Fragmente lässt den Zuschauer allein mit dieser Frage, weil er sich gar nicht erst anmaßt, die ganzen Dimensionen einer solchen Wahnsinnstat ergründen zu können. Zumal die Gewalt in das bürgerliche, das zivilisierte Wien einbricht, dort, wo man es nicht erwarten würde. In Krisenherden, ja, aber doch nicht in Wien.

Diesen Aspekt unterstreicht Haneke mit clever eingesetzten Stücken aus den damals tagesaktuellen Nachrichten: Konflikte und Kriege wohin man blickt, der Balkan bricht auseinander und man könnte jeden flüchtig in Erscheinung tretenden Menschen in den Bildern einen eigenen Film widmen. Doch in der Wahrnehmung bleiben sie konturenlos, eine Nachricht, nicht mehr. Und vor allem weit weg. So gelingt Haneke am Ende ein wahrer Geniestreich, wenn er zunächst einen Nachrichtenblock zeigt, der zunächst vom Krieg berichtet und nahtlos in eine Meldung über Michael Jackson übergeht. Dann, nachdem der Film den Amoklauf schildert, sehen wir diese beiden Meldungen erneut, nur diesmal mit dem Bericht über eben jenen Amoklauf vorangestellt, was die gesamte Gewichtung verändert. Wir wissen, dass Menschen, deren Leben wir zuvor in den titelgebenden Fragmenten kennengelernt haben, tot sind und ihr Umfeld schwer getroffen sein wird. Wir wissen, dass Trauer, Entsetzen und Vorwürfe folgen werden und wir sehen die kurze Meldung in den Nachrichten und denken: Das ist nicht angemessen. Doch genauso unangemessen ist eine 1 Minute 30 lange Berichterstattung über einen tödlichen Konflikt, gefolgt von einer Meldung, in der sich schwerwiegende Vorwürfe und popkulturelle Faszination auf krude Weise mischen. Das Schicksal wird zum kurzen Informationshappen, der leicht verdaulich ist und auch schnell wieder vergessen. Nach 71 Fragmente ist es nicht mehr so einfach, die Tagesschau zu goutieren.

Hanekes distanzierter Stil führt nicht dazu, dass man die Protagonisten nicht kennenlernt. Die hervorragenden Darsteller legen ungemein viel in die oft recht kurzen Vignetten, ihre Schicksale sind prägnant und emotional nachvollziehbar dargestellt. Und der Amokschütze ist kein Monster, was das Unbehagen nur noch steigert. Da man von Anfang an weiß, wie der Film ausgehen wird, sucht man fieberhaft nach Anhaltspunkten, die die Tat erklären könnten, aber diese werden weitestgehend verweigert. Das mag schwierig zu akzeptieren sein, aber Haneke ist klug genug, nicht auf Küchenpsychologie zurückzugreifen. Eben in dieser nebulösen Sphäre liegt die große Faszination, die der Film ausübt. Die durch Schwarzbild voneinander getrennten Fragmente zwingen den Betrachter zur Aufmerksamkeit, er wird involviert in das Leben seiner Figuren und durch die Verbindung mit dem medienkritischen Element wird es am Ende umso schlagkräftiger. Unmenschlichkeit gibt es in 71 Fragmente einer Chronologie des Zufalls an vielen Orten – Medien, Familien, Politik – und eben weil sich Haneke so konsequent zurückhält, wird seine Anklage umso lauter und eindringlicher.



 [LEIDER KEIN TRAILER VORHANDEN]


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