Dienstag, 10. Juni 2014

All Is Lost (2013)




ALL IS LOST
USA 2013
Dt.
Erstaufführung: 09.01.2014
Regie: J.C. Chandor

Immer wieder kommt es vor, dass Filme mit ganz ähnlichen Prämissen zeitnah den Weg ins Kino finden. Auf den superben Antz folgte Das große Krabbeln, vor Armageddon – Das jüngste Gericht kam Deep Impact – Der Einschlag, jüngst dürften mehr Menschen Captain Phillips gesehen haben als den hervorragenden dänischen Film zum Thema Piraterie, Hijacking – Todesangst: In der Gewalt von Piraten. Einen ähnlichen Kampf um Aufmerksamkeit können sich nun Gravity und All Is Lost liefern, geht es doch in beiden um Menschen in Extremsituationen, die sie ständig am Rand des Todes halten. Zugegebenermaßen sind die Vorzeichen und vor allem die Ausführung dann doch unterschiedlich, aber die Filme ergänzen sich auf ungeahnte Weise. All Is Lost als den „besseren“ Gravity hinzustellen läuft demnach ziemlich ins Leere und sagt sehr viel mehr über den Rezensenten aus als über den eigentlichen Film oder sein Verhältnis zu einem anderen Werk, das mit einem vergleichbaren Plot arbeitet. Unbestreitbar ist All Is Lost sperriger als Gravity, weit weniger für den durchschnittlichen Cineplex-Besucher geeignet, aber das macht ihn nicht zu einem schlechteren (oder besseren) Film.

Ein Mann ohne Namen (Robert Redford) ist allein mit seinem kleinen Schiff im Indischen Ozean, 1700 Seemeilen vor Sumatra, unterwegs, als er versehentlich einen im Wasser treibenden Container rammt. Dieser Unfall reißt ein Loch in die Schiffswand und auch wenn es dem Mann gelingt, es wieder zu schließen, geht es mit seiner Reise danach zusehends bergab: die Naturgewalten setzen ihm und seinem Schiff so zu, dass irgendwann nur noch die Flucht auf das wenig komfortable Rettungsboot bleibt. Fernab von allen internationalen Schiffsrouten geht langsam, aber sicher, sein Vorrat an Trinkwasser und Verpflegung zur Neige…

Die deutsche Synchronstimme von Redford wird an All Is Lost nicht viel verdient haben und es ist fraglich, ob die Aufnahmen mehr als einen halben Tag Arbeit in Anspruch genommen haben, denn geredet wird hier so gut wie gar nicht. Selbst der Monolog, der die Geschichte einläutet wirkt wie eine nachträgliche Idee, um den Zuschauer zumindest ein bisschen am Innenleben des Protagonisten teilhaben zu lassen. Mit wem sollte sich der lediglich als „Our Man“ in den Credits identifizierte Seemann auch unterhalten? Andere Menschen kommen lediglich als Erinnerungen vor, bestenfalls als Schemen, man ist 100 Minuten vollkommen allein mit Redford, der eine grandiose Darbietung abliefert. Man erfährt so gut wie nichts über ihn, kennt den Grund seiner Reise nicht, auch wenn es ein paar Anhaltspunkte gibt, jedoch nichts Konkretes. Redfords Figur ist reduziert auf ihre pure Menschlichkeit, eine gute Projektionsfläche für das Publikum, auch wenn man zugeben muss, dass eine plakative Charaktersierung wie in Gravity dem Erlebnis auch nicht geschadet hätte.

Natürlich muss man noch einmal auf Gravity zu sprechen kommen. Es ist gar nicht die Verhandlung von Einsamkeit, die überwältigende Erkenntnis, jeden Moment sterben zu können, die Hilfslosigkeit gegenüber den Naturgewalten, also alle Motive, die beiden Filmen gemein sind, die sie zu einem interessanten Double Feature machen, sondern die Generationsunterschiede, die sich in ihnen offenbaren. Sandra Bullock in Gravity ist deutlich jünger als Redford, sie kämpft, strampelt, schreit, will sich nicht mit der Situation abfinden, redet mit imaginären und wirklichen Gegenübern, führt Selbstgespräche (auch, um das Publikum zu unterrichten). Redford hingegen ist ein alter Mann (keineswegs despektierlich gemeint), Angehöriger einer Generation, die das Alleinsein sehr viel besser verkraften und vor allem aushalten kann als die nachfolgenden. Er ist ungemein stoisch, Probleme sind zum Lösen, nicht zum Verzweifeln da. Die aufkommenden Gefühle von Panik überwältigen ihn nur kurz, während sie Bullocks alleiniger Antrieb sind. Es dauert sehr lange, bis sich Redfords Seemann zu einem „Fuck!“ durchringen kann, bis er beginnt, an seiner Situation zu verzweifeln. Redfords Figur ist ein Macher, einer, der nicht viele Worte um etwas verliert (sicherlich nicht nur, wenn er mutterseelenallein auf dem Ozean treibt), sondern anpackt. So verläuft eine wesentliche Unterscheidungslinie zwischen Gravity und All Is Lost nicht zwischen den Settings oder den Schauspielern als solche, sondern zwischen ihren Lebensjahren. Erst durch All Is Lost wird gewahr, wie sinnvoller ein Schauspieler wie Redford in der von George Clooney verkörperten Rolle in Gravity gewesen wäre.

All Is Lost fordert den Zuschauer dahingehend, dass er sich sehr viel selbst erarbeiten muss. Regisseur J.C. Chandor kaut nichts vor, er vertraut ganz auf das Können seines einsamen Stars und auf die Intelligenz des Publikums, ihn auch lesen zu können. Dabei wird es gestalterisch manchmal etwas unglücklich, wenn der Film erstaunlich wenig aus der Weite des Schauplatzes macht und mitunter irritierend nah an Redford bleibt, als wäre die Kamera in Armlänge an ihm festgeklebt. Für jede Szene, die Gespür für die Relationen vermittelt, gibt es eine, die dazu nicht imstande ist. Insgesamt aber ist All Is Lost so spannend geraten, dass dies nicht weiter ins Gewicht fällt. Man feuert Redford an, brüllt manchmal innerlich, er möge sich schneller aus dieser oder jener Situation bewegen, leidet mit und befindet sich trotz des stoisch-ruhigen Spiels des Protagonisten stets in einer ähnlichen Ausnahmesituation wie „Our Man“. All Is Lost ist eine gleichermaßen aufreibende wie meditative Auseinandersetzung mit Leben und Tod, mit menschlichen Grenzerfahrungen, die unweigerlich nach einer ganz persönlichen Einschätzung verlangen: Wie würde ich handeln?




Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen