Freitag, 26. Februar 2016

Victoria (2015)




VICTORIA
Deutschland 2015
Dt. Erstaufführung: 11.06.2015
Regie: Sebastian Schipper

Nach etwa zwanzig Minuten Laufzeit gibt es den ersten und einzigen genuin wunderbaren Moment in Victoria: die Protagonistin und eine ihrer Zufallsbekanntschaften fahren auf einem Fahrrad eine nächtliche Berliner Straße hinunter, die anderen Neu-Freunde folgen, ebenso die Kamera, die den Anschein erweckt, nicht Schritt halten zu können. Die Tonspur blendet die Stimmen der Schauspieler aus und der traumwandlerische Soundtrack übernimmt. Es ist eine gleichzeitig beschwingte wie melancholische Situation, ein Augenblick, der in seiner Einfachheit eine bemerkenswerte Kaskade an Emotionen auslösen kann. Ärgerlich ist, dass der Film durch seine selbstauferlegte Existenzberechtigung, in einem einzigen Take gedreht worden zu sein, diesen Anflug der banalen Poesie schnell kaputt bekommt, weil sich zum Beispiel eine dann weitaus weniger schöne Aufzugfahrt anschließt und schnell auch wieder die enervierenden „Dialoge“ der Figuren zu hören sind. Und genau da liegt das Problem, dass den hochgefeierten Victoria durchzieht: man verbringt etwas über zwei Stunden mit unsympathischen – verzeihen Sie meine Ausdrucksweise – Volldeppen und einer schmerzlich naiven Hauptdarstellerin, die sich innerhalb dieser Zeit zum Kopf für durchdachte kriminelle Aktivitäten mausert. Der Film vertraut so sehr auf sein Gimmick und wohl auch darauf, dass der Zuschauer ständig die Augen nach Möglichkeiten offen hält, wo man doch einen unsichtbaren Schnitt hätte ansetzen können, dass er versäumt, seinen Figuren wirkliche Qualitäten mit auf den Weg zu geben. Victoria gibt alles für die logistische Herkulesaufgabe, lässt aber andere Qualitäten vermissen. Ein gleichermaßen langweiliger wie anstrengender Film ohne Liebe, die über die technische Umsetzung hinausgeht. Hätte er ein Schnittpult benutzt würde wohl niemand über ihn reden.

Eins Nachts gegen vier Uhr morgens verlässt die jungen Spanierin Victoria (Laia Costa) eine Disco in Berlin und macht sich auf den Weg zu dem Café, in dem sie arbeitet und das sie gegen sieben Uhr aufschließen muss. Ihr Weg wird von den angetrunkenen Freunden Sonne (Frederick Lau), Boxer (Franz Rogowski), Blinker (Burak Yigit) und Fuß (Max Mauff) unterbrochen, die sie überreden, noch etwas mit ihnen zu trinken. Sie stehlen ein paar Biere aus einem Spätkauf, trinken sie auf einem Dach und Sonne begleitet Victoria schließlich zurück zu ihrem Café. Kurze Zeit später wird klar, dass Boxer in dieser Nacht noch etwas zu tun hat, er dafür vier Personen braucht, der völlig alkoholisierte Fuß aber unbrauchbar ist. Mehr Sonne zuliebe willigt Victoria ein, als Fahrerin zu fungieren, was sie mitten hinein in einen Banküberfall katapultiert …

Victorias Technik nötigt Respekt ab, ja sie lässt den Zuschauer sogar staunen. Minuziös durchgeplant, punktgenau inszeniert, die Kamera wie ein Handlungssubjekt inmitten des Geschehens, die Kopfbewegungen des Kameramanns Sturla Brandth Grøvlen als verlängertes Sein des eigenen Körpers: es ist eine Meisterleistung, die sich hier abspielt, auch weil die Crew trotz der gewissen Restunsicherheit stets unsichtbar bleibt. Und das alles steht im Dienste einer Geschichte, deren artifizielle Konstruktion stets unangenehm präsent ist. Kann man den ersten Akt noch als intimes Haupsstadtportrait durchwinken, verzettelt sich Victoria danach in einen banalen Krimiplot aus der Tatort-Nachwuchsschreibwerkstatt, der wie der Rest des Films niemals jene Sogwirkung bekommt, wie man es eigentlich erwarten würde.

Unangenehm viel Leerlauf, in der die tumben Charaktere nichts tun bzw. deren Darsteller über ihre nächste Improvisation nachdenken (das „Drehbuch“ umfasste nur zwölf Seiten), schafft es, beinahe jeden Part des Films das nötige Tempo zu nehmen. Erst in der Wohnung des Paares mit Baby liefert der Film einen gelungenen Spannungsbogen, der durch die an dieser Stelle bereits vollkommen eingebüßte Sympathie für irgendeine der Figuren allerdings auch schnell torpediert wird. Sonne und seine Kumpel als „herzensgut“ zu charakterisieren ist eine interessante Wortwahl für einen Haufen dumm daher schwätzender Proleten, die über lange Zeit eher wie potenzielle Vergewaltiger denn wie „nette Berliner Jungs“ wirken. Warum nur sollte Victoria auf ihre übergriffige Art eingehen? Natürlich weil sich Regisseur Sebastian Schipper auch nicht sonderlich um sie kümmert.

Victorias Darstellung ist so widersprüchlich, als habe man es mit zwei Varianten eines Drehbuchs zu tun. Auf der einen Seite auf eine Art naiv, wie sie ebenso unangenehm daherkommt wie das Gehabe und Boxer und Co. mit ihren ewigen „Digger!“-Rufen, auf der anderen Seite eine Virtuosin, deren Intelligenz in einem beachtlichen Missverhältnis zu ihren Taten steht. Der Film versucht gar nicht, ihre Motivationen nachvollziehbar zu gestalten und drängt die Figur in jeder Situation in einen andere Ecke, nur um das jeweilig dramaturgisch notwendige durchzuexerzieren. Victoria ist hervorragend am Klavier, damit Sonne über sie staunen kann. Victoria ist eine skrupellose Kidnapperin, weil sie damit ihre eigene Haut retten kann. Und dann ist sie wieder das gutgläubige Dummchen, das mit den Jungs feiern geht. Nun ist jeder Mensch keine monothematische Angelegenheit, aber etwas Grundstruktur wäre schon sinnvoll gewesen, um Victoria nicht wie einen Spielball der größtenteils doch erstaunlich vorhersehbaren Story zu machen.

Victoria ist ein Film, der bleiben wird. Doch ähnlich wie Avatar – Aufbruch nach Pandora wird es nicht wegen der ausgeklügelten Geschichte sein sondern ausschließlich wegen der eingesetzten Technik. Filmwissenschaftler und –studenten werden ihn analysieren und seine meisterhafte Inszenierung loben, noch viele Zuschauer werden in die Welt des nächtlichen Berlins hineingezogen werden. Doch sie werden dort immer die über alle Maßen anstrengenden und dummen Figuren, die ewig gleichen Dialoge und den stumpfen Krimiplot finden. Victoria ist entweder ein Drama, dass von einem generischen Thriller abgelöst wird oder ein leidlich interessanter Thriller, dem ein zumindest in Ansätzen interessantes Portrait der deutschen Großstadt und einer der vielen Millionen kleiner Geschichten, die tagtäglich in ihr geschehen, vorangeht. Der deutsche Film hat kein technisches Problem, er hat ein Protagonisten-Problem und Berlin pulsiert nicht, sondern gibt nur vor, wirklich am Leben zu sein. So will uns Victoria lediglich mit seinem One-Take-Ansatz überwältigen, wirklich etwas von Belang erzählen will er nicht. Sie können weitergehen, es gibt hier nichts zu sehen oder zu fühlen.





3 Kommentare:

  1. Ich stimme dir zwar im Großen und Ganzen zu, aber man muss aufpassen, einen Film nicht an der Sympathie der Figuren zu messen. Auch "Proleten" sind legitime Protagonisten. Aber auch ich habe zu Beginn nicht verstanden, warum Victoria sich auf sie einlässt, und das Kennenlernen gerät durch die fehlenden Schnitte einfach zu lang. Victorias spätere Entscheidungen werden allerdings dadurch erklärbar, dass sie nichts zu verlieren hat und durch ihre Ziellosigkeit leichtsinnig wird.
    Insgesamt aber ein inhaltlich sehr uninteressanter Film. Ich weiß auch nicht, was alle haben.

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  2. Ich gehe so weit d'accord, was die Handlung anbelangt, finde aber die Figuren an sich recht stimmig. Eine Figur muss ja nicht unbedingt Tiefe auszeichnen, um ausreichend definiert zu sein. Und Victoria ist in ihrer Art und den sich abzeichnenden Taten durchaus plausibel (dieser 'es gibt kein zurück mehr'-Aspekt, der intuitives Handeln vor intelligentes Abwegen setzt). Über die technische Ebene gibt es wahrlich nichts zu sagen. Die spricht für sich selbst.

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  3. Schön, auch mal kritische Zeilen zu diesem Film zu lesen. Ich würde es zwar nicht so hart ausdrücken wie du, finde aber auch, dass Victoria nur wenig mehr zu bieten hat als die beeindruckende Kamera.

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