Donnerstag, 24. Dezember 2015

Oslo, 31. August (2011)




OSLO, 31. AUGUST
Norwegen 2011
Dt. Erstaufführung: 04.04.2013
Regie: Joachim Trier

Diese Besprechung ist Teil der Adventsaktion „Wünsch dir ein Review!“ und wurde von Sonja Hartl von Zeilenkino gewünscht.

Es gibt immer Labels, die Filmen gerne aufgedrückt werden. „Das Portrait einer ganzen Generation!“ beispielsweise, oder auch „voller schockierender Schilderungen“. Gern wird auch behauptet, dass es so etwas noch nie gegeben hätte, ein „Must-See“ also. So sehr man mit Superlativen aufpassen muss, so sehr kommt man manchmal in Versuchung sie doch zu verwenden. Joachim Triers Oslo, 31. August ist so ein Beispiel, auf dass die bisher genannten Labels durchaus zutreffen. Ist er bahnbrechend auf eine Weise, die es so noch nie zuvor gegeben hat? Natürlich nicht, welcher (moderne) Film ist das schon? Dennoch ist dieses kleine, präzise, ruhige und dennoch tief bewegende Drama eben genau das: ein „Must-See“, ein Generationenportrait und auch eine auf eine Art schockierende Darstellung einer Suchterkrankung, die sich von (ebenfalls hervorragenden) Filmen wie Requiem for a Dream dadurch abhebt, dass sie den „Schauwert“ des Verfalls nicht in den Mittelpunkt stellt. Oslo, 31. August ist ein Film, der bleibt.

Anders (Anders Danielsen Lie) ist 34 Jahre alt und hat nur noch zwei Wochen Therapie vor sich, bevor er aus der idyllisch gelegenen Klinik entlassen werden kann, in der seine Drogensucht therapiert wurde. Heroin und Co. haben ihn körperlich nicht zerstört, auch kognitiv hat der Missbrauch keine Einbußen mit sich gebracht. Doch psychisch ist Anders gebrochen, sein Lebenswillen ist aufgebraucht. Als er 24 Stunden Ausgang erhält, um in Oslo ein Bewerbungsgespräch bei einer Zeitschrift wahrzunehmen, nutzt Anders auch die Möglichkeit, mit alten Freunden und Freundinnen Kontakt aufzunehmen. Es wird eine Reise in seine persönliche Vergangenheit.

Oslo, 31. August hat einen universellen Anspruch. Anders‘ Vergangenheit verknüpft sich an Oslo, jede Straßenecke bekommt eine ganz eigene Bedeutung, aber die Art und Weise, wie der Film gleich zu Beginn Voice-Over und alte Aufnahmen der Stadt zu einem träumerischen Konglomerat verquickt, ist allgemein. Unweigerlich sieht man sich als Zuschauer mit den Orten und Plätzen der eigenen Kindheit und Jugend selbst so eine Collage erstellen. Später erzählt der Protagonist ebenfalls aus dem Off Eigenschaften seiner Eltern auf, während die visuelle Ebene weitere, herrlich unspektakuläre, Oslo-Impressionen liefert (wer beispielsweise die Königsstrasse oder die Oper zu sehen erhofft, der wird enttäuscht – dies ist Anders‘ Oslo, nicht das der Touristen), an anderer Stelle erzählen weitere Figuren von ihren Lebenseindrücken der Stadt. Der Film ist ein intimes Portrait einer Stadt, subjektiv und dennoch so allgemeingültig, dass man erschauern kann.

So bietet der Ort den Rahmen für die Geschichte von Anders, einem fast schon generischen „coolen Typen“: gutaussehend, in seiner Jugend mehr an Partys interessiert als an alles anderem und durch die Drogen genau dann aus der hedonistischen Phase gerissen, als es daran ging, die Weichen für das weitere Leben zu stellen. Anders ist sein Status als privilegiertes Kind aus der Mittelschicht sehr bewusst, der Film öffnet ihm immer wieder Möglichkeiten, die er aber allesamt ausschlägt. Die Freunde setzen ihn, ohne es zu wollen, unter Druck – Kinder, Jobs, geregelte Leben: sie führen Anders, egal, ob sie individuell vollkommen glücklich mit ihrer Situation sind oder nicht, vor Augen, was er seiner Meinung nach längst haben sollte. Anders will die gesellschaftliche Konventionen erfüllen, es bietet sich ihm auch jede Gelegenheit, dies sogar wahrzumachen. Ein Job, eine potenzielle Beziehung mit naturgegebener Kindermöglichkeit mit einer Partybekanntschaft, die deutliches Interesse an Anders zeigt, vielleicht sogar die Möglichkeit, das Elternhaus zu übernehmen und den Grundstein für das zu legen, was nicht nur in Norwegen als „solide“ gilt – es ist alles da, Anders lässt alles im Sande verlaufen. Er ist im wahrsten Sinne des Wortes lebensmüde, die Sucht hat jeglichen Elan aus ihm herausgesaugt, die Stoffe haben ihn gebrochen. Auch hier zeigt sich sein Konflikt mit den gesellschaftlichen Bildern – hat er als Ex-Drogensüchtiger überhaupt das „Recht“ auf Glück, auf einen Neustart, auf das Potenzial, auch mit über dreißig das Leben zu beginnen, das die Anderen bereits führen? Vieles davon wird nicht explizit ausgesprochen, Oslo, 31. August hat kein Interesse daran, auf den Zuschauer hinabzureden. Es ergibt sich aus den Handlungen, aus scheinbar zufälligen Dialogzeilen, aus Blicken, aus Gesten. Oslo, 31. August ist konzentriert und gleichzeitig traumwandlerisch, melancholisch und verzweifelt lebensbejahend, intim und universell. Ein Seufzer von Anders sagt mehr als so manche dicht beschriebene Drehbuchseite voller Expositionen.

So zieht Oslo, 31. August seine Faszination vor allem aus der sich dem Genersichen verweigernden Gestaltung. Es geht um Drogen, ohne das körperliche Elend Betroffener auszuschlachten, es geht um soziale Strickmuster, ohne dass man den Zuschauer mit der Nase darauf stoßen muss, es geht um Lebensprägung, die in ihrer unbedingten Subjektivität vielsagender wirkt, als es vermeidliche Objektivität hätte leisten können. Die 24 Stunden in Anders‘ Leben sind auch 24 Stunden in unserem Leben, denn kein Dasein kann ohne Einschnitte, ohne Passagen, ohne Fragen, Ängste, Hoffnungslosigkeit und Freude, Glück und Aufrappeln funktionieren. Anders‘ Geschichte mag spezifisch sein, aber wie das Stadtportrait Oslos entfaltet sie auf brillante, unglaublich zurückhaltende Art eine Wucht und Aussagekraft, die Oslo, 31. August zu einem Film macht, der nur an der Oberfläche ruhig wirkt. Unter ihr tobt alles, was das Leben ausmacht. Und da es um das Leben geht, geht es auch um das Kino. Oslo, 31, August ist Kino, wie es unter die Haut und ins Hirn geht und sich dort auf lange Zeit festsetzt. Und wenn die Wirkung verblasst, kann eine erneute Sichtung alles wieder zurückbringen. Um ein letztes Mal die Superlativen zu bedienen: Joachim Trier hat ein Meisterwerk geschaffen. Ganz einfach und ganz komplex.


 

1 Kommentar:

  1. Uh, Drogenfilme finde ich immer ein bisschen schwierig (außer Trainspotting, aber der ist ja auch sehr untypisch fürs Genre). Aber, wenn er, wie du sagst, "nicht den „Schauwert“ des Verfalls nicht in den Mittelpunkt stellt", dann gebe ich ihm eine Chance. Steht auf der Watchlist.

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