Dienstag, 11. Juni 2013

Flight (2012)




FLIGHT
USA 2012
Dt. Erstaufführung: 24.01.2013
Regie: Robert Zemeckis

12 Jahre nach seinem letzten Live-Action-Film, dem großartigen Cast Away – Verschollen, meldet sich Regisseur Robert Zemeckis wieder auf diesem Gebiet zurück. Ein Glück, dass er wohl in der Animationstechnik Motion Capture (Der Polarexpress) doch nicht der Weisheit letzten Schluss sah. Denn Flight mag zwar nicht der Beste Zemeckis-Film sein, aber er ist womöglich der mit der reifesten Geschichte, den ebenfalls brillanten Contact ausgenommen. Denn auch wenn es der Trailer suggerieren mag, Flight ist wahrlich kein Wohlfühlfilm oder leichtgewichtiges Entertainment.

Whip Whitaker (Denzel Washington) hat exzessiv getrunken, nicht nur am letzten Abend. Statt eines Frühstücks zieht er sich Kokain in die Nase, um wieder wach zu werden. Das Dumme an der Sache ist, dass Whitaker nicht irgendein Typ ist: er ist Pilot und muss in wenigen Stunden wieder eine Passagiermaschine bedienen. An Bord kippt er heimlich weiter Wodka, „versteckt“ in seinem Orangensaft. Dann gibt es plötzlich kurz vor dem Ziel ein technisches Problem und die Maschine rast Nase voran dem Erdboden entgegen. Mit einem waghalsigen Manöver gelingt es Whip, das Flugzeug wieder unter Kontrolle zu bringen und es auf einem Feld notzulanden. Von den über hundert Menschen an Bord sterben „nur“ vier Passagiere und zwei Besatzungsmitglieder, Whip bleibt fast unverletzt. Der Pilot ist ein Held, doch was passiert, wenn sein Alkoholismus ans Tageslicht kommt? Wird man den technischen Defekt gegen seine Sucht ausspielen? Werden die Toten des Fluges ihm angelastet?

Flight ist in erster Linie an diesen Fragen interessiert, ohne ihre Antworten dem Zuschauer vorzugeben. Hat erst der Alkohol das ungewöhnliche Manöver ermöglicht? Schließlich haben diverse andere (nüchterne) Piloten im Flugsimulator die Maschine stets nicht retten können. Hätten alle überlebt, wenn Whip nicht betrunken gewesen wäre – oder gar keiner, weil ein klarer Verstand nicht auf die Idee gekommen wäre, das Flugzeug zur Stabilisierung zu drehen? Und was sagt dies über die Verteilung der Schuld aus? Sicher, das Flugzeug stürzte wegen einem Technikfehler ab, aber ist es nicht auch prinzipiell unverantwortlich von Whip, sich trotz seiner Sucht ans Steuer zu setzen? Ist er deshalb weniger ein Held und Retter von so vielen Leben? Flight wirft allerlei schwierige Fragen in den Raum, die meisten überlässt er in letzter Konsequenz dem Zuschauer zur individuellen Beantwortung. Denn das Hauptaugenmerk liegt auf dem Portrait eines Alkoholikers. Und dieses Portrait ist nicht nur akkurat, es ist auch entsprechend traurig und niederschmetternd.

Denzel Washington läuft in seiner Darstellung von Whip zur Höchstform auf. Seine Figur ist kein Schurke und kein Held sondern einfach ein Mann, dessen Sucht ihn langsam, aber sicher ganz nach unten führt. Washington und Zemeckis exerzieren alles durch, von der Vernichtung des Alkoholvorrats in einer lichten Minute bis zum Rückfall bei von außen herangetragenen Schwierigkeiten. Whip sucht einmal betrunken die Nähe seiner geschiedenen Frau und seines Sohns und trifft durch seine plumpe Art nur auf Unbehagen und Wut, ein anderes Mal torpediert der Alkohol seine Beziehung zur Leidensgenossin Nicole (Kelly Reilly), die im Gegensatz zu Whip über die „Ich kann jederzeit damit aufhören“-Phase schon hinaus ist und Hilfe bei den Anonymen Alkoholikern sucht, während Whip ein Treffen dieser bereits kurz nach dem Beginn wieder verlässt. Washington verkörpert diese Berg- und Talfahrt hervorragend, nur wenn John Goodman als bester Freund und Drogendealer auftaucht, muss er sich geschlagen geben, denn Goodman sorgt mit unbändiger Spielfreude für die wenigen auflockernden Momente. Kelly Reilly ist Washington ebenbürtig in ihrem Spiel, ihre Nicole ist ein nicht minder zerbrochener Charakter, der sich aber eingesteht, Hilfe zu benötigen. Nicole führt Whip den Weg vor, den er noch zu gehen hat und es ist schade, dass sie im dritten Akt des Films kaum vorkommt, auch wenn es dramaturgisch natürlich sinnvoll ist: Alkoholismus stößt auf Dauer jeden ab. Der Rest des Cast hat solide Nebenrollen, aber nicht allzu viel zu tun.

Flight als Suchtfilm hat zwar nicht die Durchschlagskraft von Werken wie Requiem for a Dream oder die durchgehende Melancholie von Shame, aber er besitzt durchaus Relevanz, auch und gerade, weil die Alltagsdroge Alkohol im Mittelpunkt steht. Nicht jeder Alkoholiker ist gleich Pilot und rettet Leben, aber jeder Alkoholiker zerstört Leben – und sei es, im besten Fall, „nur“ sein eigenes. Trotz einiger Schwächen wie der Lauflänge (die zwei Stunden hätten durchaus gestrafft werden können) und offensichtlichen Drehbuchkapriolen (die geöffnete Hotelzimmertür, die zwar zu einer großartigen Szene führt, deren Konsequenzen aber in einer unpassenden, viel zu leichtfüßigen Art behoben werden) ist Flight ein sehenswerter Film, eine ernste, traurige, auf den Punkt gebrachte Auseinandersetzung mit einer alltäglichen Sucht. Wer nur den virtuos inszenierten Absturz im Blick hat, der wird womöglich enttäuscht. Alle anderen werden mit einem klugen, wenn auch nicht im klassischen Sinn unterhaltsamen, Film belohnt.




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