Dienstag, 4. Juni 2013

Before Sunrise - Zwischenstopp in Wien (1995)




BEFORE SUNRISE – ZWISCHENSTOPP IN WIEN
(Before Sunrise)
USA/Österreich/Schweiz 1995
Dt. Erstaufführung: 30.03.1995
Regie: Richard Linklater

Egal ob man an das Konzept der Liebe auf den ersten Blick glaubt oder nicht, Richard Linklaters Before Sunrise dürfte so gut wie jeden zum Gläubigen machen.
Der Film ist fernab aller Sehgewohnheiten des Mainstream-Kinos, verlässt er sich doch ausschließlich auf seine Dialoge und die Chemie zwischen seinen beiden Hauptfiguren. Trotzdem – oder vielleicht gerade deshalb – ist dies einer der schönsten Liebesfilme, die je gedreht wurden, trotz des überflüssigen deutschen Untertitels.

Die Story ist schnell erzählt: der Amerikaner Jesse (Ethan Hawke) und die Französin Celine (Julie Delpy), beide 23 Jahre jung, treffen sich auf einer Zugfahrt gen Wien. Sie sind sich auf Anhieb sympathisch und beschließen, im Bordrestaurant etwas zu essen und zu reden. Als der Zug viel zu kurze Zeit später in Wien einfährt, fasst sich Jesse ein Herz und fragt Celine, ob sie die nächsten Stunden mit ihm verbringen möchte, bis sein Flieger zurück in die USA geht. Celine willigt ein und die beiden beginnen am späten Nachmittag ihren Streifzug durch die Stadt. Sie treffen ein paar kuriose Wiener, ansonsten reden sie über alles: über Liebe, den Tod, Banalitäten, die großen Fragen des Lebens.

Mit einer kleinen Ausnahme über den Beginn des Gesprächs über die ersten sexuellen Gefühle, das gefühlt etwas zu früh im Film auftaucht, wirkt nichts an den Dialogen wie ein Script. Und auch der Ausrutscher entpuppt sich als Aufhänger für ein weiteres Thema, dass faszinierend sprachlich beleuchtet wird. So wird in einem Moment ein interessantes Konzept einer Seelenspaltung der Menschheit entworfen, im nächsten wird der „Faschismus der Medien“ angeprangert, ohne dass dies weiter verfolgt wird. Linklater beweist hier ein unglaubliches Gespür für die Ideen- und Erfahrungswelt der Anfang 20jährigen. Im Selbstverständnis immer Revoluzzer, prallen die Gegensätze von Konzepten und der Realität stetig aufeinander. Jesse und Celine sagen etwas, nur um später das Gegenteil zu tun, manchmal weisen sie sich auf die Ungereimtheiten hin, mal nicht.
Before Sunrise ist neben dem romantischen Aspekt auch ein kluger Film über eine Zeit im Leben, in der einem dämmert, dass die Welt nicht so läuft, wie man möchte, man sich aber dennoch manchmal geradezu verzweifelt an einen jugendlichen Idealismus klammert. Man kann dies im Hinblick auf die Entstehungszeit des Films als Portrait der Generation X lesen. Oder einfach als Zustandsbeschreibung einer von Umbrüchen geprägten Lebensphase, die jede Generation immer wieder neu durchstehen muss.

Das offensichtliche Kernstück des Films ist natürlich die Beziehung von Jesse und Celine, die zu den natürlichsten Darstellungen von Verliebtheit zählt, die je auf Film gebannt wurden. Es gibt unzählige wunderschöne Momente in Before Sunrise, die sich letztlich zu einem großen Ganzen vereinigen. Die Beiden tauschen verstohlene Blicke in einer Abhörkabine eines Plattenladens aus, besuchen den Friedhof der Namenlosen, küssen sich auf einem Riesenrad, lassen sich von einem spleenigen Dichter an der Donau ein Gedicht verfassen, spielen an einem Flipperautomat in einer rauchigen Bar. Sie treffen ein paar Wiener Originale, bleiben aber stets ganz bei sich. Linklater schafft es, die Aufregung des Kennenlernens, gepaart mit dem Gefühl, einen Seelenverwandten getroffen zu haben, in jedem Frame einzufangen. Fast schon müßig zu sagen, dass er es auch schafft, das Gefühl des Nicht-gehen-wollens (vor allem natürlich beim unvermeidlichen Abschied am Bahnhof) mit wenigen Gesten kongenial in Szene zu setzen. Und all das wäre ohne Hawke und Delpy nicht möglich, die nicht nur ihre Twenty-Something-Charaktere sympathisch und natürlich ausgestalten, sondern deren Leinwandchemie schon beinahe beängstigend ist. Wenn es je Figuren gab, deren Liebe man glaubte, dann sind es Celine und Jesse.

Before Sunrise hat kaum Handlung im eigentlichen Sinne, es ist eine Art Collage, Stationen eines Kennenlernens, eines Sich-Verliebens, atmosphärisch vollkommen auf den Punkt gebracht und mit begnadeten Schauspielern und einem grandiosem Dialogbuch gesegnet. Wer je verliebt war oder es noch ist, wird sich mit Sicherheit in vielem wiederfinden, was Linklater, Delpy und Hawke präsentieren. Before Sunrise ist nicht nur so gut wie allen romantic comedys auf dem Markt überlegen (comedy gibt es ohnehin weniger, die Betonung liegt mehr auf dem romantic-Aspekt), er ist auch einer der schönsten Genrefilme, den man finden kann.




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