Donnerstag, 13. Juni 2013

Star Trek IV - Zurück in die Gegenwart (1986)




STAR TREK IV – ZURÜCK IN DIE GEGENWART
(Star Trek IV: The Voyage Home)
USA 1986
Dt. Erstaufführung: 26.03.1987
Regie: Leonard Nimoy

Star Trek IV ist immer noch einer der beliebtesten Filme der Reihe, wahrscheinlich auch deshalb, weil er einer der am leichtesten zugänglichen ist. Star Trek – Der Film hatte mehr ein 2001-Publikum im Blick als den durchschnittlichen Sci-fi-Fan, Star Trek II war eine direkte Fortsetzung einer TV-Episode und Star Trek III baute stark auf seinem Vorgänger auf. Zurück in die Gegenwart war nun der erste Trek-Film, der auch von Nicht-Kennern der Serie gesehen UND gemocht werden konnte. Für das Verständnis und die Freude am Film benötigt man im Grunde nicht einmal die anderen Filme gesehen zu haben, es reicht das Wissen, dass es eine Crew eines Raumschiffs namens Enterprise gibt und das sie Abenteuer im 23. Jahrhundert erleben.

Nachdem Spock (Leonard Nimoy) wieder unter den Lebenden weilt, macht sich die Enterprise-Crew mit dem gekaperten klingonischen Kampfschiff auf den Rückweg zur Erde, wo sie sich ob ihrer Befehlsverweigerung der der Zerstörung ihres Raumschiffs verantworten sollen. Doch eine geheimnisvolle Sonde macht ihnen einen Strich durch die Rechnung: das Objekt sendet Signale in die Ozeane der Erde, die sich wie Walgesänge anhören. Allerdings sind Wale im 23. Jahrhundert ausgestorben. Mit fortschreitender Zeit bringt die Sonde das Klima der Erde immer mehr durcheinander, offenbar erbost darüber, keine Antwort zu erhalten. Also wagen Kirk (William Shatner) und Co. kurzerhand einen Zeitsprung, um zwei Buckelwale aus dem 20. Jahrhundert zu holen. Ein irrwitziger Plan, aber nicht so irrwitzig wie der Kulturschock, der den Besuchern aus der Zukunft im San Francisco des Jahres 1986 bevorsteht.

Nach einem nervigen Prolog, der einerseits sehr nach TV-Serie riecht und andererseits wirkt, als hätte man ihn nur für das deutsche Publikum angehängt, schließt der Film nahtlos an Star Trek III an. Über die in ihren Rollen perfekt eingerichteten Darsteller und die Effekte muss man kein Wort mehr verlieren, darum gleich zum Kern von Star Trek IV: Es ist ein Wunder, dass der Film funktioniert, weil eigentlich so viel dagegen spricht. Die Sonde entpuppt sich als simples plot device, die nur als Katalysator für die Zeitreise dient und danach einfach verschwindet, ohne dass sich jemand für ihre Herkunft oder ihre Mission interessiert. Die Zeitreise selbst ist ein doch sehr oft in Star Trek genutzter Aufhänger für eine Geschichte und sollte eigentlich niemanden mehr hinter dem Ofen hervor locken. Und der Clash of Cultures des 20. und 23. Jahrhunderts hätte auch ganz böse danebengehen, sich also in debilen Gags oder sinnlos agierenden Figuren erschöpfen können. Das gerade letzteres nicht passiert, ist ein Glücksfall. Die Crew verhält sich nicht dümmer, als sie ist, nur weil die Umgebung ungewohnt daher kommt. Der Humor speist sich ausschließlich aus den unterschiedlichen Denkarten. So verwechselt Scotty (James Doohan) durch seine jahrelange Arbeit auf einem Raumschiff Tausende Meilen mit Millionen Meilen, wenn es darum geht, die Entfernung zwischen Schottland und den USA anzusprechen und Chekov (Walter Koenig) wird Opfer der Kalte-Krieg-Paranoia gegenüber Menschen, die mit russischem Akzent nach Atomschiffen fragen. Und Doktor McCoy (DeForest Kelley) darf an der Medizin des 20. Jahrhundert verzweifeln.
Wie in Star Trek III achtet Regisseur und Spock-Darsteller Leonard Nimoy darauf, die Crew möglichst ausgewogen und entgegen ihrer in der Serie untergeordneten Positionen zu inszenieren. Wieder bekommen Sulu (George Takei), Uhura (Nichelle Nichols) und Chekov mehr zu tun als sonst üblich.

Star Trek IV ist mit seiner Öko-Botschaft (Rettet die Wale!) und Details wie des I Quit Smoking-Buttons am Hemd einer Figur unverkennbar ein Kind des Zeitgeists der späten 80er Jahre. Man kann dies als naives Plädoyer für mehr Umweltschutz und dergleichen verstehen, oder aber als durchaus stimmiges Konzept über die Zeit im Kontext eines Science-fiction-Films: alles ist verbunden und die Erhaltung der Natur ist immer im Hinblick auf die Zukunft zu sehen. Unter diesem Punkt scheint sogar ein bisschen Lautlos im Weltraum in all dem – manchmal auch sehr albernen (Stichwort Musik bei der Verfolgung im Krankenhaus) – Trubel durch. Zurück in die Gegenwart mag den Holzhammer durchaus im Anschlag haben, aber – wie gesagt – der Film funktioniert als Ganzes doch recht passabel. Und neben all der Comedy und des leichten Trash-Faktors bietet der Film auch noch eine sehr interessante Traumsequenz an, die den Übergang vom 23. ins 20. Jahrhundert ebnet und in der ein Mensch zurück ins Wasser, Quelle des Lebens auf der Erde, zurückkehrt. Die Symbolik ist einfach zu dechiffrieren, trifft den Zuschauer aber unversehens und bietet einen diskussionswürdigen Kontrast zum Rest des Films, auch wenn die Sequenz sehr kurz ist. Nach Star Trek – Der Film wollte man dem Zuschauer wohl nicht mehr zu viel Symbolik zumuten…

Mit der Degradierung von Kirk zum Capatin (Admiral Kirk ging ohnehin niemanden so leicht über die Lippen) endet Star Trek IV die Trilogie innerhalb der Reihe, die mit Star Trek II begann. Und trotz des hohen Comedyanteils und des ausgelutschten Zeitreiseelements ist Star Trek IV eine weitere, unterhaltsame Bereicherung von Gene Roddenberrys humanistischen Universums, diesmal sogar im verstärkten Maße auch für Nicht-Trekkies. Und dies ist für manche wahrscheinlich eine Empfehlung für sich.





300 (2006)




300
USA 2006
Dt. Erstaufführung: 05.04.2007
Regie: Zack Snyder

Man lässt sich auf einiges ein, um im Kino gut unterhalten zu werden. Man akzeptiert Raumschiffe, Monster, stahlharte Helden und Heldinnen, sprechende Tiere, unmögliche Physik und vieles mehr. Ja, wir Kinogänger können uns auf vieles einlassen. Aber es gibt Filme, die die unsichtbare und letztlich auch sehr individuelle Linie des Ertragbaren weit überschreiten. 300 ist so ein Film. Wer in diesem Machwerk nur reine Unterhaltung erkennen mag, der ist entweder blind oder beneidenswert naiv. 300 einen faschistischen Film zu nennen, mag manchen zu weit gehen und man will den Machern auch keine Tendenzen in diese Richtung unterstellen, aber ihr unbedarfter, vollkommen unreflektierter Umgang mit der Materie ist nicht nur ärgerlich, er ist auch verantwortungslos und schlicht dumm.

300 ist die lose auf den Aufzeichnungen des antiken Historikers Herodot basiernde, real stattgefundene Geschichte der Schlacht bei den Thermopylen, in der im Jahr 480 vor Christus ein unterlegendes Herr Spartaner gegen die einfallende persische Armee antrat. Befehligt von König Leonidas (Gerard Butler) stellen sich dreihundert Krieger der Übermacht, um Griechenland vor dem Untergang zu bewahren.

So weit, so simpel. 300 will und kann kein akkurater Historienfilm sein. Er muss es auch nicht. Basierend auf dem gleichnamigen Comic von Frank Miller (Sin City) ist Zack Snyders Film eine oft extrem getreue Umsetzung von gezeichneten Bildern auf die Leinwand. Schauspieler agieren in komplett künstlicher Umgebung, fast nicht wirkt real – 300 ist technisch beeindruckend und in seinem Hyperrealismus ästhetisch durchaus interessant, aber inhaltlich eine Katastrophe von ungeahnten Ausmaßen.

Man kann sich darüber streiten, ob der Film faschistische Tendenzen begünstigt oder ob seine offensichtliche Künstlichkeit, eben sein Hyperrealismus, der der wirklichen Welt entrückt wird, ihn nicht deutlich als nicht ernstzunehmendes Popcornkino kennzeichnet und ob die Abscheulichkeiten auch und gerade des spartanischen Gesellschaftssystems einen jeden denkenden Zuschauer nicht von vornherein abschrecken. Ist 300 also nur eine infantile Lust an epischen Schlachten anzulasten, will er nicht mehr, als auf sehr bescheidenen Niveau unterhalten?
Es fällt schwer, angesichts der ständig rezipierten Blut-und-Boden-Rhetorik und der visuell genüsslich ausgebreiteten Differenz zwischen Spartanern und Persern daran zu glauben. Im Kern sieht man nämlich hauptsächlich 300 weiße Männer, die alles niedermetzeln, was nicht ihrem Phänotyp entspricht. Sicherlich ist die persische Bedrohung nicht allzu realistisch gezeichnet, etwa mit Monstern und Mutanten aufgepeppt, dennoch zeigt der Film auch die rein menschlichen Antagonisten zweifelhaft. Die Perser sind immer dreckiger, dunkler und hässlicher als die ihnen gegenüberstehenden Arier – Verzeihung, Spartaner. Und ihr Anführer Xerxes (Rodrigo Santoro) ist ein Hüne mit homosexuell konnotierten Anwandlungen – und natürlich verantwortlich. 300 schafft es, so gut wie alle Minoritäten auf einmal zu beleidigen und in ein schlechtes Licht zu rücken. Fazit: nur der weiße Mann ist wirklich ein Mensch, vielleicht noch seine weiße Frau, die zuhause die Kinder hütet und Verräter im „Volkskörper“ erledigt.

Filme existieren nicht im luftleeren Raum, sie sind immer auch Zeugnis der Zeit, in der sie entstehen. So ist 300 eben ein plumper Durchhaltefilm für eine abendländische Politik, die Freiheit und Demokratie gegen das barbarische Morgenland verteidigt – nur wenige Jahre nach dem 11. September 2011. Jede Differenzierung vermeidend, ist 300 also durchaus auch als politischer Film zu lesen, zumal Politik auch ständig erwähnt wird und eine nicht unerhebliche Rolle in der Legimitation spielt. Auch hier läuft es darauf hinaus, dass eine Gesellschaft, die ihre Kinder bei Missfallen ermordet und die Überlebenden mit allen Mitteln zu Kriegern stählt, dem Fremden eindeutig vorzuziehen ist. Beide Gesellschaften sind mit ihren Methoden kein demokratisches Vorbild, aber 300 inszeniert die Spartaner trotzdem als die besseren Menschen: wenn man alles „kranke“ tötet, zieht man sich auch keine potenziellen Verräter wie Ephialtes (Andrew Tiernan) heran.

Wer all die furchtbaren politischen Implikationen in 300 irgendwie trotzdem verdrängen kann, der wird auch auf rein filmischer Ebene nicht viel finden. Dialoge werden meistens geschrien und erschöpfen sich sowieso in Action-Stereotypen, die Charaktere sind langweilig und auch der Aufenthalt in der Kunstwelt verliert irgendwann seinen Reiz. 300 ist schlicht und einfach ein dummer, hasserfüllter Film und die in Interviews immer wieder zum Vorschein kommende Weigerung von Regisseur Snyder, sich wirklich mit den Vorwürfen zu seinem Machwerk auseinanderzusetzen, ist eine Beleidigung für sich. Und weil es nichts gibt, dass 300 besser auf den Punkt bringt, als Abschluss ein Zitat von Thomas Willmann von artechock: „Mir graust's schlicht davor, dass offenbar Horden von Menschen bereit sind, einen Film wie 300 ohne das kleinste bisschen Magenbeschwerden zu schlucken. Die Frage ist ja nicht, was Spaß macht, wenn man sich nur drauf einlässt.
Die Frage ist, worauf man bereit ist sich einzulassen, um Spaß zu haben.“[1]


[1] Willmann, Thomas: Matschigbraune Spartaküsschen, in artechock: http://www.artechock.de/film/text/kritik/3/30defi.htm






The Loneliest Planet (2011)




THE LONELIEST PLANET
USA/Deutschland 2011
Dt. Erstaufführung: 03.01.2013
Regie: Julia Loktev

ACHTUNG! In diesem Review verrate ich den zentralen Punkt für das Verständnis des Films. Wer ohne Spoiler leben möchte, liest den folgenden Text lieber erst nach der Begutachtung.

The Loneliest Planet ist ein Film, der größtmöglichen Wert auf Realismus setzt. Die Geschichte eines verlobten US-Pärchens, das sich als Backpacker durch Georgien schlagen, lebt von seiner improvisierten Qualität, dem absolut natürlichen Spiel seiner Hauptdarsteller. Umso seltsamer, ja geradezu ärgerlich ist es, dass der Film nach seinem dramaturgischen Wendepunkt in artifizielle abdriftet. Nach meiner Erfahrung verhalten sich Paare nicht so, schon gar nicht nach solch einer angespannten Situation.

Doch der Reihe nach. Nica (Hani Furstenberg) und Alex (Gael García Bernal) sind dreißig und wollen bald heiraten. Die offensichtlich gutsituierten Amerikaner nutzen die Zeit vor der Hochzeit für einen Trip durch Georgien. Zusammen mit dem erfahrenen Guide Dato (Bidzina Gujabidze) erkunden sie die wilde Schönheit des Landes, bis sie auf eine andere, drei Mann starke Gruppe von Einheimischen treffen. Es gibt ein Missverständnis (wenn georgisch gesprochen wird, fehlen konsequenterweise jegliche Untertitel) und einer der Männer richtet plötzlich eine Waffe auf die beiden Touristen. Alex benutzt Nica unwillkürlich als menschliches Schutzschild, nur um sie Sekunden später hinter sich zu schieben und den Platz vor dem Lauf einzunehmen. Dato kann die Situation entschärfen und die Männer ziehen wieder ab. Nach diesen Sekunden ist in der Beziehung von Nica und Alex allerdings nichts mehr so, wie es vorher war.

Die Aura der perfekten Improvisation prägt auch jenen Wendepunkt, der den Film exakt in zwei gleich lange Teile separiert. Es gibt vor und nach den drei Sekunden, die so ziemlich alles auf den Kopf stellen, was sich die beiden Protagonisten als progressive Westler unter einer modernen Paarbeziehung verstehen. Man spürt die Anspannung, die Angst in jener Szene, die erstaunlich viel Staub aufwirbelt. Alex versteckt sich als Mann hinter Nica – „darf“ er das, ist er nicht Angehöriger des „starken Geschlechts“? Nica will offensichtlich beschützt werden – „darf“ sie das als „moderne Frau“? Die Waffe katapultiert die Verlobten mit einem Schlag in eine heute als archaisch geltende Beziehungskonstellation hinein, die sie doch längst als überwunden ansahen. Die 48 Minuten, die dem Zwischenfall zuvor gingen, zeigten sie doch als modernes Pärchen mit gleichen Rechten und Pflichten – soll dies im Angesicht der Gefahr etwa nicht mehr gelten? Mit einem Mal sehen sie sich damit konfrontiert, dass auch ihrer Beziehung dieser „altbewährte“ Kern innewohnt und das der jeweils andere in neuem Licht erscheint.

Die Fragen, die The Loneliest Planet aufwirft, sind faszinierend, dass Alex und Nica nicht ein Wort über den Vorfall verlieren, weniger. Zugegebenermaßen wurden sie auch vorher nicht als die gesprächigsten aller Zeitgenossen eingeführt, aber nicht ein einziges Wort? Auch Dato bleibt in dieser Sache stumm, als Nica ihn 20 Film-Minuten (!) nach dem Vorfall nach den Hintergründen befragt, erhält sie keine Antwort. Die Sprachlosigkeit, durch die sich die beiden in den eigenen Gedanken verlieren, wird aufgrund der Natürlichkeit des Umgangs in der ersten Hälfte des Films überdeutlich als Script-Kniff entlarvt. Es muss natürlich keine ausschweifende Abhandlung werden, aber mit der vollkommenden Verweigerung irgendeiner Auseinandersetzung innerhalb des Paares macht es sich Regisseurin Julia Loktev doch etwas einfach und torpediert damit letztlich auch die Glaubwürdigkeit der Figuren als Paar. Die Chemie zwischen Bernal und Furstenberg ist großartig, umso unglaubwürdiger ist ihre vollkommende Sprachlosigkeit. Nochmals, Beziehungen, auch die wortkargsten, funktionieren meiner Erfahrung nach doch etwas anders. Da helfen auch an sich großartige Szenen wie jene im Zelt nicht, in der Alex ein Sex-Gesuch von Nica ungewöhnlich ruppig (vorangegangene Szenen dieser Art waren sanftmütiger) annimmt – das Alphamännchen muss seiner Partnerin (und nicht zuletzt sich selbst) beweisen, dass es immer noch ein „richtiger“ Mann ist.

Auch wenn die Künstlichkeit, die im zweiten Filmteil manchmal zu offensichtlich ans Tageslicht tritt, ist The Loneliest Planet eine interessante Abhandlung über Beziehungsgefüge, dass zudem noch mit grandiosen Bildern aus dem Kaukasus aufwarten kann. Der Mensch wird klein in der unberührten Natur und der Film nimmt sich die Zeit, den Weg der Protagonisten ausführlich zu zeigen. Dies hat durchaus repetitive Züge, auch weil die eingesetzte Musik stets die gleiche ist und immer abrupt mit der nächsten Spielszene endet, aber dennoch haben die Bilder eine ganz eigene poetische Kraft. Manchmal ist es wie ein Kunstwerk innerhalb eines Kunstwerks. The Loneliest Planet ist ein sehr ruhiger Film, der voll und ganz auf seine Schauspieler, seine Bilder und seine aufgeworfenen Fragen verlässt, die der Film selbst nicht beantworten mag. Wie man die Beziehung von Nica und Alex letztlich interpretiert, ob gar das Schweigen und das entsprechend lautlose Zweifeln gerechtfertigt ist oder nicht, diese Fragen bleiben beim Zuschauer.





Dienstag, 11. Juni 2013

Flight (2012)




FLIGHT
USA 2012
Dt. Erstaufführung: 24.01.2013
Regie: Robert Zemeckis

12 Jahre nach seinem letzten Live-Action-Film, dem großartigen Cast Away – Verschollen, meldet sich Regisseur Robert Zemeckis wieder auf diesem Gebiet zurück. Ein Glück, dass er wohl in der Animationstechnik Motion Capture (Der Polarexpress) doch nicht der Weisheit letzten Schluss sah. Denn Flight mag zwar nicht der Beste Zemeckis-Film sein, aber er ist womöglich der mit der reifesten Geschichte, den ebenfalls brillanten Contact ausgenommen. Denn auch wenn es der Trailer suggerieren mag, Flight ist wahrlich kein Wohlfühlfilm oder leichtgewichtiges Entertainment.

Whip Whitaker (Denzel Washington) hat exzessiv getrunken, nicht nur am letzten Abend. Statt eines Frühstücks zieht er sich Kokain in die Nase, um wieder wach zu werden. Das Dumme an der Sache ist, dass Whitaker nicht irgendein Typ ist: er ist Pilot und muss in wenigen Stunden wieder eine Passagiermaschine bedienen. An Bord kippt er heimlich weiter Wodka, „versteckt“ in seinem Orangensaft. Dann gibt es plötzlich kurz vor dem Ziel ein technisches Problem und die Maschine rast Nase voran dem Erdboden entgegen. Mit einem waghalsigen Manöver gelingt es Whip, das Flugzeug wieder unter Kontrolle zu bringen und es auf einem Feld notzulanden. Von den über hundert Menschen an Bord sterben „nur“ vier Passagiere und zwei Besatzungsmitglieder, Whip bleibt fast unverletzt. Der Pilot ist ein Held, doch was passiert, wenn sein Alkoholismus ans Tageslicht kommt? Wird man den technischen Defekt gegen seine Sucht ausspielen? Werden die Toten des Fluges ihm angelastet?

Flight ist in erster Linie an diesen Fragen interessiert, ohne ihre Antworten dem Zuschauer vorzugeben. Hat erst der Alkohol das ungewöhnliche Manöver ermöglicht? Schließlich haben diverse andere (nüchterne) Piloten im Flugsimulator die Maschine stets nicht retten können. Hätten alle überlebt, wenn Whip nicht betrunken gewesen wäre – oder gar keiner, weil ein klarer Verstand nicht auf die Idee gekommen wäre, das Flugzeug zur Stabilisierung zu drehen? Und was sagt dies über die Verteilung der Schuld aus? Sicher, das Flugzeug stürzte wegen einem Technikfehler ab, aber ist es nicht auch prinzipiell unverantwortlich von Whip, sich trotz seiner Sucht ans Steuer zu setzen? Ist er deshalb weniger ein Held und Retter von so vielen Leben? Flight wirft allerlei schwierige Fragen in den Raum, die meisten überlässt er in letzter Konsequenz dem Zuschauer zur individuellen Beantwortung. Denn das Hauptaugenmerk liegt auf dem Portrait eines Alkoholikers. Und dieses Portrait ist nicht nur akkurat, es ist auch entsprechend traurig und niederschmetternd.

Denzel Washington läuft in seiner Darstellung von Whip zur Höchstform auf. Seine Figur ist kein Schurke und kein Held sondern einfach ein Mann, dessen Sucht ihn langsam, aber sicher ganz nach unten führt. Washington und Zemeckis exerzieren alles durch, von der Vernichtung des Alkoholvorrats in einer lichten Minute bis zum Rückfall bei von außen herangetragenen Schwierigkeiten. Whip sucht einmal betrunken die Nähe seiner geschiedenen Frau und seines Sohns und trifft durch seine plumpe Art nur auf Unbehagen und Wut, ein anderes Mal torpediert der Alkohol seine Beziehung zur Leidensgenossin Nicole (Kelly Reilly), die im Gegensatz zu Whip über die „Ich kann jederzeit damit aufhören“-Phase schon hinaus ist und Hilfe bei den Anonymen Alkoholikern sucht, während Whip ein Treffen dieser bereits kurz nach dem Beginn wieder verlässt. Washington verkörpert diese Berg- und Talfahrt hervorragend, nur wenn John Goodman als bester Freund und Drogendealer auftaucht, muss er sich geschlagen geben, denn Goodman sorgt mit unbändiger Spielfreude für die wenigen auflockernden Momente. Kelly Reilly ist Washington ebenbürtig in ihrem Spiel, ihre Nicole ist ein nicht minder zerbrochener Charakter, der sich aber eingesteht, Hilfe zu benötigen. Nicole führt Whip den Weg vor, den er noch zu gehen hat und es ist schade, dass sie im dritten Akt des Films kaum vorkommt, auch wenn es dramaturgisch natürlich sinnvoll ist: Alkoholismus stößt auf Dauer jeden ab. Der Rest des Cast hat solide Nebenrollen, aber nicht allzu viel zu tun.

Flight als Suchtfilm hat zwar nicht die Durchschlagskraft von Werken wie Requiem for a Dream oder die durchgehende Melancholie von Shame, aber er besitzt durchaus Relevanz, auch und gerade, weil die Alltagsdroge Alkohol im Mittelpunkt steht. Nicht jeder Alkoholiker ist gleich Pilot und rettet Leben, aber jeder Alkoholiker zerstört Leben – und sei es, im besten Fall, „nur“ sein eigenes. Trotz einiger Schwächen wie der Lauflänge (die zwei Stunden hätten durchaus gestrafft werden können) und offensichtlichen Drehbuchkapriolen (die geöffnete Hotelzimmertür, die zwar zu einer großartigen Szene führt, deren Konsequenzen aber in einer unpassenden, viel zu leichtfüßigen Art behoben werden) ist Flight ein sehenswerter Film, eine ernste, traurige, auf den Punkt gebrachte Auseinandersetzung mit einer alltäglichen Sucht. Wer nur den virtuos inszenierten Absturz im Blick hat, der wird womöglich enttäuscht. Alle anderen werden mit einem klugen, wenn auch nicht im klassischen Sinn unterhaltsamen, Film belohnt.