HÖHERE GEWALT
(Turist)
Schweden/Frankreich/Norwegen/Dänemark
2014
Dt.
Erstaufführung: 20.11.2014
Regie: Ruben
Östlund
Die kontrollierte
Lawine bewegt sich rasend gen Tal, von der Terrasse des Bergrestaurants hat man
einen Panormablick auf das von Menschen inszenierte „Natur“schauspiel. Doch die
Lawine erweckt schnell den Eindruck, dass sie außer Kontrolle geraten ist. Die
Kinder der schwedischen Familie, die sich zum Mittagessen auf der Terrasse
eingefunden hat, beginnen panisch zu werden, auch die Eltern reagieren
innerhalb von Sekunden weit weniger selbstsicher als noch Augenblicke zuvor.
Als die Schneemassen scheinbar unmittelbar davor stehen, die Menschen zu
begraben, schnappt sich der Familienvater Tomas (Johannes Bah Kuhnke) Handschuhe
und Mobiltelefon und rennt um sein Leben – seine Frau Ebba (Lisa Loven Kongsli)
und die Kinder Harry (Vincent Wettergren) und Vera (Clara Wettergren) zurücklassend.
Als kurz darauf klar wird, dass lediglich etwas Schneestaub das Restaurant
eingenebelt hat, kehrt er zurück und setzt sich wieder an den Tisch zu seiner
Familie, so, als wäre nichts gewesen.
Dies ist die
Schlüsselszene von Höhere Gewalt, ein
an sich filmisches Kleinod, eine perfekt inszenierte Momentaufnahme von großer
Wucht und genau dem sozialen Zündstoff, mit dem sich der Film in der Folge
beschäftigen möchte. Einzig, es fehlt ihm an wahrer Zündkraft, denn unter der
fast schon gespenstisch ruhigen Inszenierung und den dazu passenden Bildern von
zusammenbrechenden Familienglück und geradezu verzweifelten
Naturbeherrschungsphantasien zementiert Höhere
Gewalt eher Klischees durch den kleinsten gemeinsamen Nenner anstatt sich
auf wirklich interessantes Terrain zu wagen. Der Film denkt entschieden zu
kurz.
Nach der Sache
mit der Lawine versucht die Touristenfamilie zunächst, den schönen Schein zu
wahren, es gibt mehrere halbherzige Versuche der Ehepartner, das Geschehene
aufzuarbeiten, der Mann versucht sich herauszureden, seine Frau möchte die
Sache gern ausführlich mit Freunden besprechen. Langsam beginnt die
gutbürgerliche Fassade zu bröckeln, was den Film aber nirgends hinführt. Die
Prämisse ist grandios, doch spürt man stets, wie viel mehr in Höhere Gewalt drin gewesen wäre. Es ist
immer frustrierend, dem Film nachzutrauern, den es nicht gibt anstatt sich auf
das zu konzentrieren, was geboten wird, aber Regisseur Ruben Östlund stolpert
so eklatant bei den wichtigsten Aspekten – der Figurenzeichnung und einem
stimmigen Drehbuch, dass einer Analyse standhält – dass man kaum umhin kommt,
dies zu tun.
Sein Protagonist
ist ein Mann der Mittelklasse ohne Eigenschaften und jegliches Profil. Man
erfährt nichts über sein Leben vor dem Urlaub, generisch wird einmal von „zu
viel Arbeit“, ein anderes Mal von einer außerehelichen Affäre gesprochen,
ansonsten bleibt er blass. Das Aufgeben der Familie fällt auf keinen
fruchtbaren Boden, egal wie superb die Szene darüber hinaus inszeniert ist. Die
Dekonstruktion von Männlichkeit, um die es Östlund geht (und darum, die
Scheidungsraten zu erhöhen, wie er in einem leicht kruden Interview freimütig
erläutert), findet ein leicht angreifbares Opfer. Dieser Mann war in seiner
uninteressanten Schwäche augenscheinlich schon immer wenig zuverlässig, so will
es der Film zumindest suggerieren. Tomas ist wie der Bomberjacken-Neonazi im
deutschen Kino: leicht zu identifizieren, leicht zum abarbeiten, die womöglich
gravierenderen (und vor allem zeitgemäßeren) Probleme völlig außer Acht
lassend. Wäre der liebende, fürsorgliche und umsichtige Ehemann, der in der
Ausgangssituation dann so handelt, nicht sehr viel interessanter? Die Wirkmacht
von archaischen Männlichkeitsidealen bis in die moderne Paarbeziehung hinein,
die damit einhergehende Sinnkrise des modernen Mannes, die intrafamiliäre
Auseinandersetzung – eine potentere Variante von Höhere Gewalt schreibt sich quasi von selbst. Doch Östlund
entscheidet sich unisono für den Weg des geringsten Widerstands und des einfachsten
Drehbuchs. Unweigerlich wird man an den weitaus durchdachteren The Loneliest Planet von Julia Loktev
erinnert, in dem die Regisseurin durch eine Fülle von Details mehr über ihre
Figuren, ihre Dynamiken und die emotionalen wie sozialen Wirkmechanismen erzählt
als es Östlund mit seinen teilweise sehr plakativ dahingeklatschten
Platzhaltern tut. Es ist bemerkenswert, wie sehr sich die Filme im Ansatz
ähneln, wie sehr ihnen gleiche Überlegungen zugrunde liegen und wie
unterschiedlich die Ergebnisse sind. Es ist vielleicht zu wenig, um nach dem
Plagiat zu schreien, aber es fällt auch ins Auge, wie sehr sich die Filme bis
zur künstlerischen Gestaltung (Stichwort Musik) ähneln.
Der Mann als
Schwächling, die Frau als gefühlskalte Rechthaberin (die Szene, in der sie die
Panik ihrer Kinder ob des sich im Zimmers befindlichen Reinigungspersonals
ignoriert ist nicht ganz so intensiv wie die Lawinensequenz, wohl aber genauso
bezeichnend), die Kinder als vom Drehbuch ziemlich negierte Handlungsspielbälle
(ja, ich weiß, ein „Kommentar“ zur über allem schwebenden Scheidungsthematik) –
Höhere Gewalt fährt schwere Geschütze
auf, um dann unfokussiert in der Gegend herumzuballern, interessiert sich aber
auch nicht wirklich für seine Figuren oder deren Konflikte. Es gibt Szenen von
unglaublicher Sprengkraft, etwas wenn Tomas seine Flucht vehement verneint, nur
um dann durch einen „Videobeweis“ überführt zu werden, die aber aufgrund der bereits
genannten Punkte nicht ihre volle Wirkung entfalten. So dekonstruiert Östlund
weit weniger, als er uns weiß machen will, weil er einfach mit Augenbinde Hiebe
in alle Richtungen verteilt, anstatt gezielte Treffer zu landen. Das Unglück
trifft teilnahmslose Langeweiler, wen soll es also kümmern? Östlund vermeidet
nicht nur gezielte Hiebe, er hat auch ein reichlich unterentwickeltes
Verständnis von Paarbeziehungen. Die massive Sprachlosigkeit, die auch The Loneliest Planet nicht immer gut zu
Gesicht stand, wirkt einmal mehr derartig überzogen, dass man sich fragt, ob
der Regisseur überhaupt schon mal eine längere Beziehung geführt hat (auch hier
gibt ein Interview partielle Auskunft: er lebt allein als „perfekter Konsument“
– nun gut). Wirkliche, nachvollziehbare Emotionen gibt es bei Östlund nicht,
weil er seinen Figuren keine Tiefe zutraut und dem Zuschauer im Umkehrschluss
ebenso nicht.
So führt auch
dies nur weiter zur Quintessenz des ganzen Unterfangens: Figuren, sie sich im
Endeffekt in ihren Rollen bestätigen (gerade auch durch das Ende, in dem ein
„klassisches“ Heldentum wieder bestärkt und Ebba einmal mehr in die Rolle eines
undankbaren Stereotyps gedrängt wird) wandeln durch einen Film, der sich selbst
für sehr viel subversiver hält, als er ist. Es gibt tonnenweise Ansatzpunkte,
die kaum genutzt werden, durchaus Momente von nicht wegzudiskutierender
Schönheit und inszenatorischer Kraft, sehr viel Handwerkskunst und dadurch eben
auch viel Diskussionsstoff. Die Sichtweisen auf den Film sind de facto
interessanter als der Film selbst, der sich nicht traut, wirklich dorthin zu
gehen, wo es weh tut. Höhere Gewalt
könnte viel zum Geschlechterverhältnis, zum Stand moderner Ehen, zur „Krise der
Männlichkeit“ sagen. Dass er es nicht tut, sondern dies nur oberflächlich
behauptet, sollte ihm entschiedener angekreidet werden. Denn im Endeffekt ist
es ein Rant ohne Fokus im Gewand eines ziemlich zahnlosen Papiertigers.
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